: Nato will Europa um- statt abrüsten
Beim Nato-Außenministertreffen stellen die USA ihre Pläne zur atomaren Umstrukturierung in Europa vor / Kurzstreckenraketen sollen abgebaut werden / Statt dessen werden 450 Abstandswaffen stationiert / Luftgestützte Raketen verstärken die Bedrohung der Sowjetunion ■ Von Andreas Zumach
Brüssel (taz) - Ursprünglich trafen sich gestern die Außenminister der Nato-Staaten in Brüssel, um in einer Sondersitzung vor allem über die Ost-West-Beziehungen vor dem Hintergrund der deutschen Vereinigung zu reden. Doch dann nutzten die USA die Gelegenheit, Pläne für eine neue „Verteidigungsstrategie“ vorzustellen. Demnach planen sie eine Umstrukturierung ihres atomaren Potentials in Westeuropa: Durch luftgestützte Raketen soll die Bedrohung der Sowjetunion vom Territorium der BRD und anderer Bündnisstaaten aus verstärkt werden, die bislang gegen die DDR, Polen, Ungarn und die CSFR gerichteten Waffen sollen weitgehend oder ganz abgezogen werden. Einen entsprechenden Vorschlag legte US-Außenminister Baker gestern seinen 15 Nato-Kollegen in Brüssel vor.
Fast zeitgleich gab George Bush die Pläne in Washington bekannt. Es gelte, auf die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa zu reagieren, sagte der US-Präsident, um im kommenden Jahrzent eine Umgestaltung Europas zu erreichen.
Nach dem US-Konzept sollen zunächst 450 Abstandswaffen (SRAM-T) mit Reichweiten von mindestens 400 Kilometern beschafft werden, mit denen die Kampfflugzeuge Tornado, F -11, F-111, F-15E und F-16 ausgerüstet werden sollen. Anders als mit senkrecht fallenden Atombomben können Kampfflugzeuge mit diesen Abstandswaffen das Territorium des „Gegners“ ohne Gefährdung durch dessen Luftabwehr beschießen.
Gelagert werden sollen die SRAM-T in 389 unterirdischen Bunkern in den Hangars der Flugzeuge, davon in 144 in der BRD. Als bundesdeutsche Stationierungsorte zieht das Pentagon die Flugplätze in Ramstein, Hahn, Nörvenich, Memmingen und Büchel in Erwägung, die bis auf Memmingen bereits mit den Bunkern ausgestattet sind; darüber hinaus kommen 14 Luftwaffenbasen in Großbritannien, den Niederlanden, Belgien, Italien, der Türkei und Griechenland in Betracht.
Bereits seit 1988 sind für die SRAM-T Finanzmittel in den US-Haushalten vorgesehen. Die Entwicklung einer Abstandswaffe mit Reichweiten bis zu 1.500 Kilometern, mit denen dann auch Ziele östlich von Moskau erreichbar wären, wird vom Pentagon in einem geheimen sogenannten „black programm“ betrieben. Großbritannien, dessen Regierung die Stationierung der neuen Atomwaffen in der Bundesrepublik ausdrücklich fordert, entwickelt zusammen mit Frankreich ebenfalls eine Abstandsrakete mit Reichweiten zwischen 1.000 und 1.500 Kilometern. Einen Teil der - weitgehend veralteten - 1.500 bodengestützten Artilleriegranaten mit Reichweiten bis 30 Kilometer will Washington laut Baker einseitig abziehen. Der Rest sowie die rund 700 Atomsprengköpfe für die 88 Lance-Kurzstreckensysteme (rund 120 Kilometer) soll in Verhandlungen mit der UdSSR eingebracht werden.
Diese Verhandlungen könnten nach Fertigstellung eines ersten Vertrages bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Waffen (VKSE) beginnen. Washington will die von Moskau gewünschte Einbeziehung flugzeuggestützter Atomwaffen in diese Verhandlungen verhindern. Möglicherweise wird die Bush-Administration den Abzug bodengestützter Atomwaffen aus Westeuropa von einer vorherigen Zustimmung der Nato zur Stationierung der neuen flugzeuggestützen abhängig machen. Detailliertere Beratungen stehen auf der Tagesordnung der Nuklearen Planungsgruppe (Verteidigungsminister) am 9.Mai im kanadischen Calgary. Nach Informationen der taz wird bereits für Juli dieses Jahres ein Gipfeltreffen der 16 Nato-Regierungschefs erwogen.
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bestätigte vor Journalisten, daß die USA ihr Entwicklungsprogramm für die Lance-Raketen beenden, eine Modernisierung dieser Waffen also nicht vornehmen wollten.
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