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Nackte Brüste und die Partei der Bestimmer

Eine frühe Jugend in der DDR: Christoph Hein erzählt listig und mit doppeltem Boden „Von allem Anfang an“  ■ Von Lothar Baier

Was war da „von allem Anfang an“ in den Erlebnissen des 13jährigen Daniel, die Christoph Hein in seinem neuen Prosabuch aufzeichnet? Soll es heißen, daß da von Anfang an der Wurm drin war in der DDR, aus deren Frühzeit das Buch erzählt? Oder führt der Titel aufs Glatteis, indem er eine Teleologie hinter den erzählten Episoden vorgaukelt, die sich dann bis zum Ende nicht einstellen will?

Lücken wolle er füllen, erläutert der Ich-Erzähler Daniel sein Vorhaben, „mit dem, was ich erlebt, und mit dem, was ich gesehen, aber nicht verstanden habe. Mit dem, was ich gehört habe, aber was mir nicht erzählt wurde. Und mit dem, was vor meinen Augen geschah und was ich dennoch nicht sah. Damals.“ Doch mit eben diesen Sätzen täuscht er sich und damit auch die Leser: Lücken werden nicht geschlossen, sondern klaffen weiter unter der Oberfläche beruhigend zusammenhängenden Erzählens. Die transparente Prosa, in der das Buch geschrieben ist, verbirgt doppelte Böden und steckt voller irreführender Wegzeichen. Zum Beispiel in die autobiographische Richtung. Fast unwiderstehlich erscheint die Versuchung, in dem Ich-Erzähler ein bloßes Double des Autors Hein zu sehen: Kind einer kinderreichen Pfarrersfamilie, die bei Kriegsende aus Schlesien vertrieben wurde und sich in der sächsischen Provinz niederließ, fällt Daniel wie der junge Hein unter das strenge Regiment der Mitte der fünfziger Jahre klassenkämpferisch auftrumpfenden DDR, das Kindern verstockt bürgerlicher Eltern den Zugang zum Abitur verwehrt, und weicht deshalb in ein für solche Ostschüler eingerichtetes Westberliner Internat aus. Sobald die Lektüre sich jedoch verleiten läßt, die Erzählung nach Aufschlüssen über die Biographie des Autors abzusuchen, entgeht ihr deren literarische Textur. Das Buch zeichnet sich durch eine einzigartig schmiegsame Schreibweise aus, die der Erlebniswelt eines Heranwachsenden keinerlei besserwissende Gewalt antut und dennoch die bestimmte Handschrift des erfahrenen Autors Hein nicht verleugnet. Der Begriff Rollenprosa wird dieser bewundernswerten Kunstfertigkeit keinesfalls gerecht.

Ein neuer, gegenüber Heins „Napoleonspiel“ und den Erzählungen „Exekution eines Kalbes“ deutlich wärmerer Ton dringt aus dieser Prosa. Was dem Erzähler auch immer an Merkwürdigkeiten und Ungerechtigkeiten begegnet, sein Bericht antwortet darauf nie mit dem Ausdruck von Ressentiments oder von grollendem Trotz. Daß er als Pfarrerssohn sonntags in der Kirche sitzen muß, während seine Kameraden draußen herumtoben dürfen, bedauert er zwar, trägt es seinen Eltern aber nicht nach. Durch die Doppeleigenschaft des Pfarrers- und des Flüchtlingskindes dazu verurteilt, gegenüber den Gleichaltrigen in der sächsischen Kleinstadt den Außenseiter zu spielen, macht er das Beste aus der ihm zugewiesenen Randposition, indem er sich dort einen Beobachtungsposten einrichtet, der ihm Distanz und Überblick verschafft. Mit einer Mischung aus noch kindlichem Staunen und schon erwachsenem Verständnis nimmt der Erzähler zur Kenntnis, wie sich seine Eltern monatelang anschweigen. Mit der gleichen nachsichtigen Aufmerksamkeit begegnet Daniel dem Erwachen der eigenen Sexualität, bis er sich von der Gewalt des hervorbrechenden Triebs hilflos glückselig überwältigt fühlt – was Hein wiederum in einer einzigartig gelungenen, einfühlsamen und gleichzeitig distanzierten Erzählbewegung einfängt.

In seiner nach wie vor lesenswerten Jugendautobiographie „Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend im Faschismus“ hat Peter Brückner auf die Frage, was das Kennzeichen einer Jugend unter den Nazis gewesen sei, geantwortet: Es war vor allem eine Jugend. Eine frühe Jugend in der DDR, gibt Heins „Von allem Anfang an“ zu verstehen, ist trotz der Benachteiligungen, denen der Sohn eines evangelischen Pfarrers im Herrschaftsbereich der Einheitspartei ausgesetzt war, in erster Linie als durchschnittlich aufregende Jugend vorzustellen, Zeit der sich im unpassenden Augenblick einstellenden Erektion, der Freiheitsphantasien, die die Begegnung mit umherziehenden Seiltänzern in Gang setzt, der ersten Küsse, des ersten Theaterspielens und der kleinen Geheimnisse, die sich nicht einmal der stets verständnisbereiten Nenntante Magdalena anvertrauen lassen. Wem soll Daniel die Befürchtung mitteilen, er habe möglicherweise ein Mädchen geschwängert, weil sein masturbierend verspritztes Sperma an dessen Fahrradsattel geraten war? Mit der erzählerischen Inszenierung dieser tragikomischen Pubertätsobsession ist Hein ein einzigartiges Kabinettstück gelungen.

Selbst die Partei der „Bestimmer“, wie es einmal heißt, die SED, die der Pfarrersfamilie das Leben schwermacht, gerät für einen Augenblick in den Bannkreis erotischer Assoziationen. Als das begehrte und zugleich seiner sexuellen Erfahrungen wegen ein wenig gefürchtete ältere Mädchen Pille Daniel eröffnet, daß es in die Partei eintreten werde, kommt die von der Familie vermittelte Abwehr ins Wanken: „Ich hatte ihre Brüste gesehen, die großen roten Brustwarzen, das feuchte Schamhaar, von dem die Wassertropfen herabrollten. Diese Bilder mischten sich in meinem Kopf mit der Partei, und ich war verwirrt.“ Doch dieselbe Partei ist es auch, die den konservativ tüchtigen Großvater von seinem Posten als Verwalter des Staatsgutes verdrängt und die in Daniels Familie sich von selbst verstehende Ablehnung der sozialistischen „Bestimmer“ bekräftigt. Ihren Vorschriften ist es schließlich zu verdanken, daß der glänzende Schüler Daniel seinem älteren Bruder ins Westberliner Internat nachfolgen muß.

„Von allem Anfang an“ erzählt nicht nur von einer politischen, sondern auch von einer gesellschaftlichen Geschichte, und zwar vom zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnenden Prozeß irreversibler Transformation der deutschen Gesellschaft. Was daraus wird, ist noch nicht ganz entschieden, doch was allmählich verschwindet, das macht die Erzählung sichtbar. Der auf dem ihm anvertrauten Staatsgut traditionell wirtschaftende Großvater, die mit besonderer Liebe porträtierte Tante Magdalena, die einst „Hausdame“ bei einem Professor war, die Pfarrersfamilie, die Ziegen hält und Gemüse anbaut, sie alle repräsentieren auf unterschiedliche Weise eine noch halb der agrarischen Vergangenheit verhaftete kleinbürgerliche Lebensform, die dem herandrängenden sozialen und technischen Wandel nicht mehr lange standhalten wird.

Die Chronologie von Daniels Aufzeichnungen endet Anfang November 1956, dem Datum des Aufstands in Ungarn. Von dem Ereignis nimmt die Pfarrersfamilie deshalb besonders Notiz, weil sie an jenem Wochenende zum Besuch des ältesten Sohns nach Westberlin gefahren ist und dort vom Café Kranzler aus aufmerksam die Leuchtschrift an der gegenüberliegenden Fassade studiert, die Meldungen westlicher Nachrichtenagenturen wiedergibt. Der Ich-Erzähler Daniel wundert sich weniger über den Umstand, daß eine Ost-Version und eine West-Version der Ereignisse existiert, als darüber, daß die Gäste des Westberliner Cafés ungeachtet der vor ihren Augen vorüberziehenden Nachrichten vom Drama in Budapest genußvoll an ihrem Eis weiterschlecken. War das schon immer so im Westen, von allem Anfang an? Christoph Heins mitreißende, klug aufgebaute, mit scheinbar leichter Hand geschriebene und dabei mit äußerster Sorgfalt durchkomponierte Erzählung legt sich auf keine bestimmte Antwort auf die Frage nach dem Anfang des Endes fest, die sie andeutend stellt.

Christoph Hein: „Von allem Anfang an“. Aufbau Verlag, Berlin 1997, 199 Seiten, 32 DM

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