Nachwuchs-Genossenschaft in Leipzig: Das Gegenteil von eigentlich
Junge Postakademiker vereinen neue Formen von Kino, Galerie und Café unter einem Dach. Die Genossenschaft "Neue Eigentlichkeit" scheut weder Basisdemokratie noch Banker.
Was ist das Gegenteil von "eigentlich"? Die "Neue Eigentlichkeit" natürlich - so sieht es zumindest Christian Geyler, einer jener jungen Gründungsväter und Mütter der gleichnamigen Genossenschaft, die der Innenstadt von Leipzig ein neues Kulturzentrum bescheren wollen. "Leipzig war eine der wichtigsten Handelsstädte Europas, und jetzt sind hier im Zentrum nur noch Schuhgeschäfte", erklärt Vorstandsmitglied Geyler.
Wir laufen durch die aufgehübschte Altstadt, sie ist der Ausdruck von Leipzigs Bürgerstolz, auch Geyler nennt sich einen "Lokalpatrioten". Die GründerInnen der neuen Genossenschaft, es sind junge Postakademiker um Ende zwanzig. Und so leidenschaftlich, dass sie zu aller Sachlichkeit bereit sind. Ihr Kulturzentrum soll Wirklichkeit werden, tatsächlich, nicht eigentlich.
Am Friedrich-List-Platz wird ihre Idee nun "in Kalkstein geformt". Zwei Kinosäle, eine Galerie und im Herzen das Café. So viel Fantasie braucht man nicht mehr, um sich die spätere Atmosphäre vorstellen zu können.
Name: "Neue Eigentlichkeit"
Sitz: Friedrich-List-Platz 1, 04103 Leipzig (5 Minuten vom Hbf.)
Anliegen: Kulturfreiheit
Umsetzung: Kulturzentrum in der Leipziger Innenstadt mit zwei Kinos, Galerie und Bar. Geplant sind thematisch gebündelte Kurzfilmabende mit komplementären Austellungen und Lesungen.
Mitglieder: 70
Ein Anteil kostet: 200 Euro
Kapital: 40.000 Euro
Mitglied werden: www.neue-eigentlichkeit.de
Mail: info@neue-eigentlichkeit.de
Telefon: (0341) 529 3298
Dennoch ist hier, im Keller eines der ältesten Leipziger Passagenhäuser, im Moment nur eine feuchtkalte Großbaustelle zu sehen - Genosse Philipp Heino, zuständig für die AG Plan & Bau, zerbricht sich gerade den Kopf über den Einbau der Lüftungsanlage, 50.000 Euro kostet der Spaß, und das Geld haben Sie noch nicht zusammen; so intensiv wie gerade jetzt war die Werbung um neue Genossen noch nie - aber: Die Hälfte, 25.000 Euro, sind schon da. Der Rest muss in spätestens eineinhalb Monaten auf dem Konto sein. Die ersten Veranstaltungen sind trotzdem schon geplant. Ein "Testbetrieb", im Rohbau.
Das Provisorische macht den Jungprofis von der Neuen Eigentlichkeit keine Angst, schließlich hatte 2004 so alles begonnen: mit dem "DachKino" am Rande der Leipziger Südvorstadt, studentisch-alternativ. Kurzfilme wurden dort gezeigt, "wir hatten halt Lust, Filme zu sehen und Bier zu trinken", erinnern sich Geyler und Heino. Doch im Jahr 2008 wurde aus "jugendlichem Leichtsinn" Ernst.
Aus der Erfahrung, dass es zwar sehr viele gute Kurzfilme gibt, diese aber den Weg in den Verleih nicht finden und allzu häufig überhaupt niemals einem Publikum zugänglich werden, entstand das künstlerische Konzept der Neuen Eigentlichkeit. Unter einem thematischen Schwerpunkt, zum Beispiel "Tahrirplatz", werden mehrere Kurzfilme und Beiträge kombiniert: "Wir gestalten so einen ganzen Abend - die Kurzfilme werden in der Bündelung emotionsscharf wie ein Spielfilm. Und sogar rezensionsfähig", erklärt Geyler.
Prinzip des demokratischen Kuratierens
Alle waren sich einig, "etwas Großes" sollte es werden, in der Innenstadt. Und auch nicht einfach nur ein neues Programmkino - eine Galerie ergänzt das Konzept, Vorstandsmitglied Almut Wiedenmann, gelernte Kunsthistorikerin, wird für sie als Ressortleiterin verantwortlich sein: "Wie bei den Kinoveranstaltungen auch gilt bei der Galerie das Prinzip des demokratischen Kuratierens; die Genossen können mitreden, zu jeder Ausstellung gibt es eine Ausschreibung", erklärt sie.
Die Genossen: Zurzeit sind es bereits 70; schon 40.000 Euro Kapital sind zusammengekommen. Die benötigte Investitionssumme beträgt jedoch 140.000 Euro. Und nun? "Entstaffelung" heißt das Stichwort, die MacherInnen der Neuen Eigentlichkeit haben sich kundig gemacht und bekommen professionellen Rat von Unterstützern wie der Volksbank und Leipziger Unternehmen.
Die Filmförderungsanstalt Berlin gibt im Rahmen der Förderung des Kurzfilms ein Drittel dazu - von der Stadt gibt es nichts: "Dort denkt man: Wer in die Innenstadt geht, hat ja Geld. Und überhaupt ist es ganz schön verrückt: Für die Stadt sind wir linke Spinner, für die alternative Szene Kapitalisten", sagt Geyler lachend.
"Genosse" - dieser Begriff weckt im Osten Deutschlands bei manchen BürgerInnen ungute Assoziationen, doch im Zuge der Finanzkrise etabliert sich allmählich ein neues Bewusstsein, von dem die Neue Eigentlichkeit profitiert. Bürgerschaftliches Engagement hat in Leipzig eine lange Tradition - bedingt durch die Mangelwirtschaft auch zu Zeiten der DDR. Längerfristig sollen es also mindestens 300 Genossen werden, das Eigenkapital soll eine Höhe von 160.000 Euro erreichen.
Nix Milchkaffee
Aber worum geht es den jungen Genossen eigentlich? Es geht nicht um Arbeitsplatzbeschaffung - gerade mal drei Stellen werden maximal entstehen - und auch nicht um Geld. "Ich gönne mir was", sagt Almut Wiedemann, "in meinem Brotberuf verdiene ich Geld, und hier kann ich mich verwirklichen. Das ganze Projekt kann nur mithilfe von ehrenamtlichen Mitarbeitern funktionieren - und es gibt genug Menschen, die das Bedürfnis haben, neben ihrer Tätigkeit im Callcenter etwas Sinnvolles zu tun."
Philipp Heino ergänzt: "Von unserer Generation hieß es immer, dass sie nur mit Umhängetaschen herumsitzt, Milchkaffee trinkt in Bars, die eigentlich aussehen wie Wohnzimmer, und darüber nachdenkt, was man eigentlich machen könnte. Wir hatten uns in diesen Zuschreibungen durchaus wiedererkannt - und wollten etwas Konkretes schaffen, das unsere Biografie beeinflusst. So ist die Neue Eigentlichkeit entstanden."
Ein Wohnzimmer wird es nun aber doch - für die Genossen und Freunde der Neuen Eigentlichkeit solle das Projekt am Friedrich-List-Platz ein Zuhause in der Innenstadt werden, die so manchem Leipziger etwas fremd geworden ist: "Es gibt natürlich längst einen Hype um Kulturflächen, Stichwort Neo Rauch. Die Alte Baumwollspinnerei - kennt jeder.
Aber in der Innenstadt ist nichts", sagt Geyler. Eine Bar ist daher unverzichtbar, hochwertige Produkte aus der Region sollen angeboten werden. Die Neue Eigentlichkeit, unweit des als Touri-Falle verschrienen Barfußgässchens, wird mit einem Hostel im selben Haus sein. Willkommen sollen alle sein: Einheimische, Touristen und Genossen. Ganz konkret.
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