: Nachschlag
■ Loest, Goldstücker und Borbandi im Haus Ungarn
Seit dreizehn Jahren können die Ereignisse öffentlich diskutiert werden: der Arbeiteraufstand 1953 in der DDR, die Ermordung Imre Nagys 1958 zwei Jahre nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution und schließlich der Sommer 1968, als der Versuch eines demokratischen Sozialismus in der ČSSR unter sowjetischen Panzern begraben wurde.
Das Haus Ungarn hatte drei prominente Zeitzeugen eingeladen: den Schriftsteller Erich Loest, sieben Jahre Haft in Bautzen, seit 1981 im Westen lebend; Eduard Goldstücker, 1951 zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, Kafka-Experte und Protagonist des Prager Frühlings, nach 1989 aus dem Londoner Exil heimgekehrt, und den Maler Gyula Borbandi, seit 1949 als Ungar im Exil in München lebend. Das hätte interessant werden können, hätten die drei älteren Herren etwas mehr darauf verzichtet, subtile dissidentische Platzhirsch-Kämpfe auszutragen: War des einen Aufstand der erste, so waren die ungarischen Ereignisse zwar nur die zweiten in der Chronologie, dafür aber viel umfassender, während '68 in Prag natürlich ohne Zweifel die politische und intellektuelle Krönung des Ganzen darstellen mußte.
Dank der ebenso geduldigen wie kenntnisreichen Moderation von Peter Liebers ließen sich dann aber doch interessante Details anstatt der bekannten Analysen herauskitzeln. Etwa Erich Loests mit bösem Witz vorgetragenen Erinnerungen an die kulturpolitische Situation 1953: „Damals wurde der Formalismus bekämpft, und der SED-Apparatschik Alfred Kurella legte fest, was dekadent ist – Rückblenden im Roman beispielsweise. Denn nur ein zögerndes Element schaut nach hinten; unsere Helden aber haben nur die Zukunft zu kennen.“ Gyula Borbandi erlebte im Exil die verlogene Haltung des Westens angesichts des russischen Einmarschs in Budapest: großmäulige Kalte-Kriegs-Rhetorik bei gleichzeitiger Praxis des Appeasements, dem das ungarische Volk völlig gleichgültig war. Eduard Goldstücker erfuhr vom Juni 53 in seiner Isolationshaft überhaupt nichts. Als er schließlich 1955 freigelassen wurde, „erkannte ich, daß das System, an das ich einmal in meiner Jugend geglaubt hatte, eine Lüge war. Ich schwor mir, bis an mein Lebensende diese Perversion sichtbar zu machen.“
Die Diktatur ist mittlerweile gestürzt, was bleibt? Loests Bücher wieder daheim in den Buchläden von Leipzig, die Hare- Krishna-Jünger auf dem Wenzelsplatz in Goldstückers Prag, gleich neben den Postkartenverkäufern grellbunter Hintergrund mit schwarzen Schattenrissen – Kafka und Schwejk sich zuprostend. Eine freundliche Utopie: Bier statt Blut. Marko Martin
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