Sanssouci: Nachschlag
■ Ottingers "Taiga" im Bücherbogen
Die S-Bahn ratterte im Zehnminutenrhythmus über dem Dach, als Ulrike Ottinger – zusammen mit dem Verleger Dirk Nishen – am Montag abend den zum Film „Taiga“ erschienenen (gleichnamigen) Foto-Text-Band im Bücherbogen vorstellte. In einem der ehemaligen Reitställe des Mr. Tattersalls, wo heute die geschmackvoll eingerichteten Läden der upper middle class residieren, sprach die Filmemacherin über Verlauf und Erfahrungen bei ihrem Filmprojekt in der Mongolei, über die Reise zu und mit den Nomadenvölkern der Darkhad und Sojon Urijanghai.
„Taiga“, der Film, stolze 501 Minuten lang, zeigt in ruhigen Einstellungen Bilder aus der Welt dieser Menschen, die seit Jahrhunderten mit ihren Viehherden in der nördlichen Taiga leben. Langsame Schwenks in einer kargen Landschaft, lange, verhalten geschnittene Einstellungen auf die Rituale und Zeremonien der Nomaden. Die Kommentare sind sparsam und zurückhaltend eingesetzt, hin und wieder ein Untertitel, eine Erklärung zu Traditionen und Riten, ein ins Deutsche übertragener Text aus einer Zeremonie, sehr selten Dialoge.
Film und Buch, erklärt Ulrike Ottinger, sollen kein komplettes Wissen über zwei Völker vermitteln (man weiß ja inzwischen, daß Kommentare nur zu häufig die Illusion eines Wissens über das andere schaffen). Darum ist aus Taiga kein zweistündiger Dokumentarfilm geworden, und die Filmemacherin bezeichnet sich auch nicht von ungefähr als ethnologisch interessierte Künstlerin – und nicht als Ethnologin. Sie hat aufgezeichnet, Eindrücke gesammelt, sagt sie, und man kann immer wieder das Interesse spüren, das Ulrike Ottinger für diese ganz andere Form, das Leben zu organisieren, empfindet: für Schamanenséancen oder das Ritual des Hammelschlachtens am Öwtschuunii Naadam, dem „Fest des Hammelbrustknochens“ (die Frau an meiner Seite verschwindet aufstöhnend in der Tiefe des Kinosessels – und zerdrückt dabei ihr Schinkensandwich).
Sowenig wie der Film – trotz seiner Überlänge – langweilig wird, so wenig werden die ZuhörerInnen an diesem Abend der Erzählungen Ulrike Ottingers überdrüssig. Sie handeln von der ganzjährigen, oft auch beschwerlichen Reise in die Mongolei. Ottinger erzählt so lebendig, daß das Publikum schließlich mit besorgten Fragen aufwartet: zur medizinischen Versorgung im Falle einer Beinfraktur („Können sie sich wirklich selbst helfen?“) und zur Morgentoilette der Nomaden.
Frau Ottinger nimmt's mit Geduld und Humor. Und steht gern Rede und Antwort. Wer sie bei der Premiere des Films erlebt hat, erkannte die eine oder andere Anekdote wieder. Zum Beispiel die: Bei den Nomaden erkundigt man sich, wenn ein Gast kommt – die Nomaden sind sehr gastfreundlich – nach dem Wohlergehen; außerdem nach dem Verlauf der Winter- und Sommerperiode und danach, wie es den Viehherden gehe. Als die Filmemacherin schließlich einer Schamanin auf diese Fragen berichtet, daß die Menschen aus ihrer Welt eigentlich nicht bei Viehherden, sondern in Städten mit Tausenden von vielstöckigen Häusern leben, bricht die alte Frau, nach anfänglicher Verwunderung über so ein Dasein, in Lachen aus und sagt: „Ich sehe, ich sehe, Sie sind eine Märchenerzählerin.“ Petra Lüschow
Der Bildband „Taiga“ kostet satte 128 DM. Der Film „Taiga“ läuft das nächste Mal am Ostersonntag um 11 Uhr im Babylon Ost.
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