: Nachschlag
■ Apokalypse aus der Aktentasche – Hermann L. Gremliza
Die Veranstaltung am Sonntagnachmittag lieferte vor allem eine Neuigkeit: Hermann El Gremliza verfügt noch über andere Kleidung als über ein in den Sweatshirt-Ausschnitt gezwängtes Hemd. Mit Aktentasche, Strickjacke und Nelke im Ostberliner „Kulturhaus Saray“ einschwebend: welcher konkret-Leser, jeden Monat mit dem immergleichen schwarzweißen Paßfoto abgespeist, hätte sich das träumen lassen? Und erst der Blick: einmal nicht stählern in dunkle Zukunft schauend, sondern auf die eigenen Manuskripte gerichtet ...
Dennoch – zehn Mark sind dafür entschieden zuviel. „Vorwärts und nicht vergessen, die Renta-bili-tät“. Auch wer Brecht so ins Neudeutsche überträgt, braucht nicht so hart zuzulangen. Um so mehr, als der Überraschungsgast des Nachmittags, IM Martin alias „Hermann Kant“ wider Erwarten ausblieb. Anstatt dem Hamburger Meinungsführer verquaste Referenz zu erweisen, hatte er sich vielleicht wieder mit seinem Führungsoffizier verplaudert. Ansonsten: das Übliche. Die Opfer des Holocaust wieder geschwätzig und unverschämt als Verfügungsmasse für die eigenen Pamphlete mißbraucht, die ermordeten Juden als wehrlose Stichwortgeber für Gremlizas Texte, die noch immer vor raunender Beschwörung einer verhängnisvollen Vorsehung triefen. Januar 33 und November 89 als „Beginn des Wahnsinns“: „Jeder große Tag der Deutschen ist ein schwarzer Tag für die Menschheit“. Drunter macht's Gremliza nicht, die ganze Apokalypse soll es sein: das 4. Reich wird kommen, ganz Osteuropa wird hungern und frieren und rassistisch-chauvinistisch sein auf immerdar. Und wehe, wenn nicht. Dann nämlich hat „die Bürgerpresse“ bestimmt wieder manipuliert, und die Hauptfeinde (also taz, FAZ, Lutz Rathenow, Vera Wollenberger und Monika Maron) haben übel agitiert. Ach, Karlchen Krause, was für ein Abstieg! Waren das noch Zeiten, als Du in Deinem Erweckungsjournal den Mörder-General Jaruzelski bejubelt hast. Jetzt ist es nur noch der Waffenschieber Schalck-Golodkowski, dem man gegen die „bürgerliche Klassenjustiz“ beistehen muß. Die großen Zeiten sind vorbei: „Solidarität mit ,Solidarność‘ hilft der polnischen Arbeiterklasse weniger als die Besetzung der Startbahn West, der Krefelder Appell und jede andere Aktion, die den Kapitalismus trifft.“ Das waren noch Sätze, da war noch Zack dahinter. Und jetzt? Den armen Norbert Elias beklauen und seine klugen Gedanken in einem Gremliza-Artikel verwursten. Wer ist denn unter den Deutschen, die „stets ihr zivilisatorisches Minus in ein kulturelles Plus umlügen“, der Deutscheste? Vielleicht gar der einsame Seher und Mahner in der Strickjacke, dessen Bücher sich wie Bibeln auf dem Verkaufstisch stapeln? Daneben andere Literatur, ebenfalls Perlen zivilisatorischer Raffinesse: die Dorfschulzen-Prosa Erwin Strittmatters ebenso wie die Verfertigungen der angegrauten FDJ-Poetentante Gisela Steineckert. Als der Boß mit der Predigt fertig ist, steht er auf: „In 45 Lesungen hat bisher keiner danach eine Frage gestellt. Wer sich mit mir streiten will, kann das schriftlich tun, ansonsten hilft etwaiger Unklarheit eine erneute Lektüre meiner Texte zumeist ab.“ Kennen wir das nicht auch: die Abneigung gegen Debatten, Wort und Gegenwort, gegen mündlichen Disput? Dann lieber im stillen Kämmerlein hocken und etwas verbittert zusammenkritzeln. Mit oder ohne Nelke, auf jeden Fall aber mit genug Sendungsbewußtsein und deutscher Kultur. Marko Martin
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