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Nachschlag

■ Ruth Gay über die Geschichte der Juden in Deutschland

Auch im Land der Dichter und Denker sind Menschenaufläufe vor Buchläden eine Seltenheit. Die neue Literaturhandlung in der Joachimstaler Straße brachte am Montag abend das Kunststück fertig, von Neugierigen geradezu belagert zu werden. Für späte Gäste war an ein Hineinkommen nicht zu denken, denn im Inneren des Ladens traten sich schon mehr als 200 Zuhörer gegenseitig auf die Füße. Kein Kultautor stellte seinen neuen Roman vor, kein Fußballstar signierte seine Memoiren. Als Publikumsmagnet wirkte die deutsche Premiere des Buches „Geschichte der Juden in Deutschland“ der amerikanischen Autorin Ruth Gay – übrigens auch eine Premiere für die Literaturhandlung, die ähnlich wie in München künftig in Berlin mit ihren Veranstaltungen Akzente setzen will.

„In der jüdischen Geschichte kann man Marksteine aus Greueltaten bilden“, meinte die in den USA als Kind von Ostjuden geborene Autorin, „oder man kann das alles anders sehen.“ Ruth Gay wollte es anders sehen. Nicht rückwärts vom Endpunkt des nationalsozialistischen Völkermords wollte sie in ihrem Text- und Bildband (C.H. Beck Verlag, 78 Mark) die Geschichte der Juden in Deutschland erzählen, sondern „von Anfang an“. Von der Zeit der Römer am Rhein, als die ersten Juden ins spätere Deutschland kamen, wollte sie verfolgen, was das Leben der Juden in Deutschland ausmachte, wie der Alltag der Juden aussah und was sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung aufbauten. Das war sehr viel: „Sie hatten in den 2.000 Jahren eine eigene Sprache, das Jiddische, eine ganze Kultur entwickelt.“ Mit dem Problem der Gleichberechtigung haben sich Deutsche und Juden in ihrer 2.000jährigen Symbiose nur 150 Jahre lang auseinandergesetzt, nur 65 Jahre lang genossen Juden das volle Bürgerrecht.

„Für Deutschlands Juden waren die Signale, die die Umwelt ihnen vermittelte, nicht immer klar“, sagte Ruth Gays Ehemann Peter in seiner Einleitung. Die Ambivalenz hat der in Berlin geborene Historiker selbst erlebt, wie er erzählte. 1935 mußte sein jüdischer Vater, die Auswanderung schon überlegend, entscheiden, ob der Sohn als Fremdsprache Latein oder Englisch lernen sollte. Englisch wäre im Blick auf das Exil zweckmäßiger gewesen, aber der Lehrer riet dem Vater des begabten Schülers zu Latein – und der Vater hörte auf den Rat. Die Interpretation überließ Peter Gay dem Publikum: Der Vater hatte offensichtlich noch Hoffnung. 1939 entkam die Familie mit dem letzten Schiff nach Kuba. Im Nachwort ihres Bandes nennt Ruth Gay ihren Mann einen „der Überlebenden der Gemeinschaft, derer auf diesen Seiten gedacht wird“. Die Welt, die Ruth Gay dokumentiert, existiert nicht mehr. Die Autorin wählte den Vergleich mit einem jüdischen Friedhof, der auch Zeugnis von einer vernichteten Kultur gibt: „Ich setze mein Buch als Erinnerungsstein hin.“ Hans Monath

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