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SanssouciNachschlag

■ Klassikerprojekt in der Studiobühne des Maxim-Gorki-Theaters

Zwei Frauen, ein Kerl. Zwei Autoren, beide sechsundzwanzig. „Miß Sara Sampson“ und „Stella“: Lessings kathartisches Lehrstück der Empfindsamkeit und das in die Utopie der Doppelehe preschende Schauspiel des libidinös verwirrten Goethe. Dazwischen 20 Jahre. Die Distanz zwischen 1755 und 1775, im Studio des Maxim-Gorki- Theaters geschrumpft auf die Breite eines Türrahmens. Da zwängen zwei Regiestudenten der Ernst-Busch-Schule, Tom Kühnel und Robert Schuster, mal eben zwei Epochen, zwei Stücke, zwei Dramentheorien und neun Darsteller auf etwa 15 Quadratmetern Bühne zusammen, lassen miteinander, nacheinander, durcheinander eine Riesenmenge Text aufsagen, und nach drei Stunden Verrat, Versöhnung, Mord und Türenknallen könnte man noch einige Stündchen weitergucken.

Dabei ist anfangs alles klar getrennt in „Stella oder der letzte Tag der Miss Sara Sampson“. Hier die eine, da die andere Tür, hier Johann Wolfgang, da Gotthold Ephraim, hier Stella und Cäcilie in Konkurrenz um den Offizier Fernando, da Sara und die Marwood im tödlichen Streit um Mellefont. Nur Karl, der Diener, fleischgewordene Intertextualität, latscht unbekümmert vom Sturm und Drang ins bürgerliche Trauerspiel und zurück, hin und her zwischen Gasthof und Posthaus. Erst überlagern sich nur Szenenränder, dann gehen einzelne Dialoge ineinander über, in immer schnellerer Parallelmontage, bis schließlich simultan gelitten, verraten und geklagt wird. Choreographie der Blicke und Gesten, vielsagendes Zögern – Präzision auch im wildesten Gewirbel. Kurz vor der Pause erreicht die kunstvolle Stückezerstückelung mit einem opernreifen Quartett der langsam gesteigerten Leidenschaften tatsächlich den dramaturgischen Orgasmus. Zwar verkündet das Regisseurduo des theatralischen Doppelwhoppers im Programmheft, vor allem der Abstand zwischen beiden Texten habe interessiert, doch verliert sich die historische Entfernung in der perfekten Montage, der Leichtigkeit der räumlichen Berührung. Ungerührt blickt ein Stück aufs andere. Mit höflicher Diskretion überspielt man Peinlichkeiten, Schreiereien, selbst die Selbstmorde in der anderen Bühnenecke. Weiter im Text! Trauerspiel und Bigamistendrama spielen Slapstick im stoischen Ernst gegenseitigen Ignorierens. Und die Diskrepanz der Epochen zieht sich verschüchtert in die Kostümfalten zurück. Da mag sie auch bleiben, wenn zwei Dichterfürsten schon mal miteinander kichern. Katja Nicodemus

Wieder am 7. 3., 20 Uhr, MGT-Studio, Hinter dem Gießhaus

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