■ Nachschlag: Charles Dickens' „Weihnachtslied“ bei den Friends of Italian Opera
„A Christmas Carol“ von Charles Dickens ist ein sozialkritisches Weihnachtsmärchen, ein angelsächsischer Feiertagsklassiker. Dem herzlosen Geizhals Scrooge erscheinen die Geister der Weihnacht, und sie nehmen ihn mit auf eine Reise durch die Zeit. Sie zeigen ihm die Abgründe der Gesellschaft, die eigene Vergangenheit und Zukunft, den Tag seines Todes. Entsetzt darüber, daß niemand ihn liebt und deshalb auch niemand um ihn trauert, beschließt Scrooge, ein besserer Mensch zu werden.
Bewegt von der Frage, was ausgerechnet eine freie Theatergruppe mit diesem etwas angestaubten Stoff anfangen wird, kommt man also in den kleinen Theaterraum der „Friends of Italian Opera“, und hat noch eine Weile Zeit, die sehr detailgenaue Bühne (John Colton) zu betrachten – hin- und hergerissen, ob man das nun für historischen Kitsch oder einfach ein kunstvolles realistisches Bühnenbild halten soll. Eine ärmliche viktorianische Stube mit verblichenen Wänden, ein glühendes Feuer im gußeisernen Kamin, vereiste Scheiben einer geöffneten Balkontür, durch die man einen vernebelten Winterhimmel sieht. Die handwerkliche Ausführung (Marcus Wellendorf u.a.) war jedenfalls für ein Kreuzberger Hinterhoftheater ungewöhnlich.
Dann erscheint der einzige Darsteller, Jeff Caster, im Kerzenschein eines Kandelabers. Er beginnt, die Geschichte von Scrooge zu erzählen, wird Scrooge, und beschwört in seiner Erzählung all die Personen der Handlung, Menschen und Geister gleichermaßen. Einen Moment glaubt man noch, einen Ahnen von Samuel Becketts Krapp vor sich zu haben. Aber dann schämt sich das kleine Theater, daß es so ein kleines Theater ist, und fängt an mit den Muskeln zu spielen. Flackernde Scheinwerfer und Lichteffekte, Stimmen aus dem Kamin, Geräusche und Musik schaffen nun Atmosphäre, statt dies dem Schaupieler zu überlassen. Der ergibt sich schnell den technischen Hilfsmitteln. So wird aus Krapps viktorianischem Vorfahren ein augenrollender, gestikulierender Selbstdarsteller, und ein Projekt erstickt an den eigenen Ambitionen. Nach gut zwei Stunden ist die Geschichte aus dem merry old England zu Ende, und ein geläuterter Scrooge winkt vom Balkon. Merry Christmas! Esther Slevogt
Bis 11.1.1998, Di. bis So., 20 Uhr, Friends of Italian Opera, Fidicinstr. 40
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