■ Nachschlag: Blieb ziemlich blaß –“Maß für Maß“ im Deutschen Theater
Der Herzog hat die Nase voll. Grad saß er (Jörg Gudzuhn) noch in einem Sessel vor dem Vorhang der Kammerspiele des Deutschen Theaters und hörte im Radio, daß alles schlecht ist und noch schlechter wird. Da schreit er auf. Ganz klar, der Mann braucht eine Auszeit vom Amt. Er übergibt Lord Angelo (Edgar Selge) das Staatsgeschäft und verreist. Doch Angelo ist einfach überfordert. Und weil das keiner merken soll, haut er so richtig drauf. Er räumt auf in der Stadt, von der wir hören, es sei Wien. Ein harmloser Lude (Horst Lebinsky) und eine alternde Puffmutter (Margit Bendokat) sind plötzlich staatsfeindliche Elemente, und Claudio, ein junger Adeliger (Guntram Brattia), wird zum Tode verurteilt, bloß weil er die Geliebte schon vor der Ehe schwängerte. Doch die größten Kritiker der Elche, sind selber welche. Als Claudios Schwester, die tugendhafte Isabella (Jacqueline Macaulay), um Gnade für den Bruder bittet, will der gestrenge Angelo – Sex.
Ganz klar, ein Fall von sexueller Nötigung. Im Amerika von heute wäre die Frau jetzt reich, der Mann dagegen ruiniert und politisch weg vom Fenster. Doch bei Shakespeare ist der Jammer groß. Der Henker wetzt das Beil. Die Geliebte windet sich in Wehen. Den Delinquenten macht die Angst zum Akrobat. Die Schwester stöhnt, weil sie den Bruder nun für ihre Tugend opfern muß. Doch weil der gute Herzog ja nicht wirklich weg war und das Geschehen ganz inkognito verfolgte, gibt's ein Happy-End. Die Toten sind nicht tot. Den Bösen wird vergeben. Eine Massenverheiratung setzt schließlich einen Deckel auf jeden Topf. Bloß die schöne Isabella fällt in Ohnmacht, als ihr der weniger schöne Herzog die Ehe anträgt.
Dann ist das Stück zu Ende und der Beifall groß. Und ein Kritiker, der sanft schon nach dem ersten Akt entschlummert war, erwacht erst jetzt vom Lärm des Schlußapplaus. Rappelt sich mühsam auf und schlägt im Programmheft nach: Wie hieß das Stück? Und wer war bloß der Regisseur? Und eilt beschämt nach Haus. Was soll er bloß jetzt seinen Lesern sagen? Esther Slevogt
23. und 29.1., 19.30 Uhr, Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstraße 13a, Mitte
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