■ Nachschlag: Prolo- oder Privilegiertentracht? – Blumen für BBs Grab
„Also ob det alles so rechtens ist, wenn die den Brecht so hochschaukeln, det weeß ick nich“, meinte der Totengräber, der am Dorotheenstädtischen Friedhof an Brechts Grab auf und ab ging, als hielte er dort Wache. „Hat ja viel Weiberei jehabt. Aber een Dichter war's halt ooch.“ Auch die Vertreter des Berliner Ensembles hatten so ihre Bedenken zur Heldenverehrung. Vorauseilend ließen sie in aller Morgenfrühe und vor allen anderen einen Kranz niederlegen mit der Aufschrift: „wer immer es ist, den ihr hier sucht, ich bin es nicht – bertolt brecht“. Passend dazu rote Nelken im Kranz. Der große Chef des Berliner Ensembles sei hier gewesen, berichtet der Totengräber. „Aber wie der heißt, det weeß ick nich.“
Weniger namenlos gab sich die politische Prominenz. Herwig Haase für das Abgeordnetenhaus und Sabine Bergmann-Pohl für den Regierenden Bürgermeister. Brecht war es kaum, den sie hier suchten. Glücklicherweise war die Presse schon zahlreich erschienen und freute sich angesichts der Ereignis- und Sprachlosigkeit an jeder und jedem Blumenniederlegenden. „Bei Brandt und so reden die Politiker ja was, aber beim Brecht tun se det nich“, sagte der Totengräber. Die Presseleute hatten sich derweil der Topographie des Ortes bemächtigt. Brechts Grab gegenüber liegt die begehbare monumentale Grabanlage der Familie Borchardt, von deren erhöhtem Standpunkt aus sich besser filmen und fotografieren läßt. Es herrschte gute Stimmung auf dem Friedhof. Immer mehr illustre Gesellschaft zeigte sich, nickte sich zu und freute sich des würdigen Anlasses. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Nur einer hatte Pech: der Mann von der FDP. Er kam etwas zu spät. Da waren die Presseleute schon weg. Einsam legte er seinen Kranz nieder; weniger passend: rosa Rosen. Vielleicht hatte er tatsächlich den Brecht gesucht, der ja zu seiner Zeit Besserverdienender gewesen sein soll. Auch darüber wußte der Totengräber Bescheid: „Der Brecht, der konnte ja rüber in'n Westen und hatte det Geld. Keen Wunder, daß der immer Leder tragen konnte. Wir im Osten hatten det nie.“ Somit wurde am 100. Geburtstag auch das letzte Brecht-Bild entzaubert: Die Brechtsche Lederkluft war demnach nicht Proletenklamotte, sondern Privilegiertentracht. Hedwig Richter
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