■ Nachschlag: Herr der Rätsel: Der israelische Autor Yoram Kaniuk las im LCB
Das war die vielleicht kürzeste Lesung der Welt: Eine knappe Minute las der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk aus seinem neuesten Roman „Das Bild des Mörders“, dann brach er ab. Nein, er könne jetzt nicht weiterlesen. Das sei richtig gefährlich. Beim Lesen eines fertigen Buches komme er immer in Versuchung, alles umzudichten, besser zu machen, anders zu machen, das ganze Buch neu zu schreiben. Und dabei arbeite er doch gerade an einem ganz anderen Projekt, da könne er doch jetzt nicht an ein Neuschreiben alter Bücher denken. Nein, der Pressesprecher seines deutschen Verlages solle ruhig gleich die Übersetzung vorlesen, da verstehe er nichts, das bringe ihn nicht auf dumme Gedanken. Schade. Denn das hebräische Original, aus dem der 1930 in Tel Aviv geborene Kaniuk gelesen hatte, klang dem dieser Sprache unmächtigen Zuhörer wie ein eindringlich gemurmeltes Gebet. Anhand der Übersetzung verstand
man wenigstens, um was es geht: Es ist eine Art Kriminalroman, ein Sprengstoffanschlag in einem Café in der Innenstadt von Tel Aviv steht am Anfang. Er scheint nicht politisch motiviert, wird bald zu den Akten gelegt. Eine Pressefotografin jedoch verfolgt die Spuren weiter, von dem unbestimmten Gefühl getrieben, der Anschlag habe etwas mit ihr zu tun, mit ihrer Vergangenheit. Der Roman schwankt zwischen der Vorstellungswelt jener Fotografin, die mit den Urhebern des Anschlages gleichzeitig ihre eigene Geschichte sucht, und einer journalistisch präzise dargestellten Wirklichkeitswelt. Manches bleibt rätselhaft. „Ich mag Rätsel sehr“, sagt Kaniuk dazu. Rätsel seien für ihn ein Mittel, die Realität zu entziffern. Es habe sich „irgendwann alles vernetzt“ in seinem Buch, und „so wurde ein Krimi draus“, weil er selbst nicht wußte, wie das enden würde. „Ich habe geschrieben, um das alles zu entschlüsseln.“ Was zu entschlüsseln? Die Geschichte jener Fotografin, die auch die Geschichte Kaniuks ist und, so wird im Verlauf des Romans deutlich, auch die Geschichte des Staates Israel.
Sie stand immer im Mittelpunkt von Kaniuks Büchern, ob in „Adam Hundesohn“ oder „Das Glück im Exil“, immer ist die Entstehung und die Geschichte Israels das imaginäre Zentrum seines Schreibens. Mit „Das Bild des Mörders“ habe er versucht, endlich einen Roman ohne Shoah und ohne Unabhängigkeitskriege zu schreiben, meint Yoram Kaniuk. Und leicht resigniert stellt er fest: „Es ist mir wieder nicht gelungen.“ Volker Weidermann
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