■ Nachschlag: Glücksgefühl und Kitschverdacht: Tortoise im Sendesaal des SFB
Der Sendesaal des SFB war wie geschaffen für dieses Konzert. Trendbewußte junge Menschen in Synthetikhosen saßen entspannt, aber konzentriert auf ihren zugewiesenen Plätzen und wippten mit den Fußspitzen. Tortoise gehören hier zum guten Ton wie anderswo die Rauhfasertapete oder das wohltemperierte Klavier. An ihnen können sich nicht nur Popjournalisten, sondern auch Politologiestudenten abarbeiten, denn mit Tortoise läßt sich sowohl der Ekel vor zu leichter Kost als auch der vor verbildetem Dünkel demonstrieren. Tortoise machen nicht Punk oder Jazz, weder Neue Musik noch Elektronik oder Krautrock. Sie machen von allem ein bißchen, erinnern dabei an die frühen Kraftwerk und haben dabei etwas Neues entdeckt, das nun unter Postrock läuft.
Wen das alles an diesem Abend eher kalt ließ, konnte sich getrost zurücklehnen und darauf hoffen, daß es diesem Publikum so ergehen würde wie Lesern in Bibliotheken: daß sie einfach von der Musik aufgesaugt und in ihr verschwinden würden wie in den Büchern. Und wirklich klappte das schon im ersten Stück: Eine Schicht legte sich über die andere, ohne zu verkleben. Es hörte sich so an, als sei es jedem selbst überlassen, welche freizulegen und auf welcher mitzuschwimmen ist. So konnte man sich einreden, garantiert etwas anderes zu hören als die anderen. Jeder konnte in seinem eigenen kleinen Stück Tortoise untertauchen. Ab und zu traf ein Kindertröten-Blaswandler diesen speziellen Ton, träufelte die Baßgitarre eine Melodie ins Herz, schwemmte Glücksgefühle nach oben und versprach einen verzauberten Moment lang Geborgenheit und wohlige Wärme. Kaum regte sich aber Kitschverdacht, war sie wieder verschwunden, wurde überlagert durch Ungewohntes, Anstrengendes. Kurz vorm erschöpften Weghören tauchte die Melodie wieder auf, fing wieder ein und bat darum, auch dem nächsten Ausflug hinterherzuhören.
Live entwickeln Tortoise noch mehr Ideen als im Studio. Die Musiker improvisieren, sprechen auf ihren Instrumenten miteinander und liefern sich Frage-und-Antwort-Spiele wie in einer Jam Session. Blechbläser und Xylophon passen sich gesampelten Störgeräuschen an, als sei das nie anders gewesen. Alles ist im Fluß. Als der schimmernde, schwindelerregende Tonstrudel endlich seine Zuhörer wieder ausspuckt, wirken alle ein bißchen wie vorm Ertrinken Gerettete. Es spielt keine Rolle mehr, ob das nun Postrock war oder verpoppter Jazz. Susanne Messmer
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