Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig
Matthias Vernaldi war Vorkämpfer für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – vor einer Woche ist er mit 60 Jahren gestorben.
Das Memento mori stand in seinem Wohnzimmer auf der Anrichte. Ein Totenschädel, neben den Fotos der Familie. Der Tod war Matthias Vernaldi ein Begleiter. Als ungebetenen Gast hat er ihn eingeladen, mit ihm das Leben zu feiern. Das hat er sich erkämpfen müssen gegen Verhältnisse, die ihn zum unmündigen Pflegefall erklären wollten, gegen die Prognosen der Ärzt*innen. Die gaben ihm und seinen nach und nach immer bewegungsunfähigeren Muskeln gerade mal zwanzig Jahre Zeit zum Leben. Die angeborene spinale Muskelatrophie bedeute einen frühen Tod, zwangsläufig, haben sie gesagt.
Er hat allen Unkenrufen getrotzt, bis zum Montag letzter Woche. Da ist Matthias Vernaldi, Berliner Aktivist der Behindertenbewegung, mit sechzig Jahren gestorben. Dass er überhaupt so alt geworden ist, das war für ihn klar, lag nur an der persönlichen Assistenz und seinem unbedingten Lebenswillen. Er, der in den letzten Jahrzehnten keine Hand mehr heben konnte, hatte immer jemanden an seiner Seite. Als Arbeitgeber seines rein männlichen Teams suchte er sich seine Assistenten selbst aus. Matthias Vernaldi war sich sicher: Hätte er in einem Heim leben müssen, er wäre viel früher unter die Erde gekommen. Seine Assistenten waren geschult im Umgang mit seinem Atemgerät, mehrfach retteten sie sein Leben, verhinderten Erstickungen oder stellten sich Sanitätern in den Weg, die fanden, es lohne sich nicht, den Bewusstlosen zu versorgen.
Sein Leben war eines, das vielen auch in aktuellen Debatten als ein Paradebeispiel für „nicht lebenswert“ gegolten hätte. „Wir brauchen keine Sterbehilfe, wir brauchen Lebenshilfe!“, hätte Matthias Vernaldi dazu gesagt. Er drehte allen eine Nase, die ihm seinen Lebenswert absprachen. Geboren im thüringischen Pößneck, kam er mit sieben Jahren ins Internat in Gotha. Im Schlafsaal lagen die Kinder Bett an Bett, die Krankenschwestern pflegten wie am Fließband, es regierte die schwarze Pädagogik, renitente Kinder wurden mit Medikamenten ruhig gestellt. Nachts kamen Pfleger, um Matthias' krumme Glieder in einem Gipsbett gerade zu biegen. Seine Erfahrungen beschrieb er in seinem autobiographischen Roman „Dezemberfahrt“.
Als Teenager kommt er in eine liberalere Einrichtung in Arnstadt, trifft auf progressive, christliche Pfleger*innen und Lehrer*innen. Mit vierzehn geht er in den lokalen Kneipen ein und aus, betrunkene Gäste mit glasigen Augen legen den Arm um ihn, versichern ihm mitleidig: „Junge, einen wie dich hätte unser Führer damals vergast.“ Auf die örtliche Oberschule darf er nicht gehen – zu viele Treppen. Sein Abi hätte er machen können, im Internat in Birkenwerder, wo stark pflegedürftige Schüler*innen damals noch ausschließlich im Bett unterrichtet wurden. Für ihn ausgeschlossen.
Die ARD-Doku "Schräg, fromm & frei. Die Kommunarden von Hartroda" (30 min) erinnert an die einzigartige Kommune in der DDR, in der behinderte und nicht behinderte Menschen jenseits staatlicher Pflegeheime zusammen lebten, feierten, sich liebten, Gottesdienste abhielten und schließlich ins Visier der Stasi gerieten. Absolut sehenswert!
Zu finden auf Youtube unter "Die Kommunarden von Hartroda". (taz)
Mit rebellischen Arnstädter Mitschüler*innen gründet er 1978 statt dessen die erste WG für behinderte Menschen, da ist er neunzehn Jahre alt. Direkt ins Altenheim oder zurück zur Familie – keiner von ihnen will, was die DDR für sie als Pflegebedürftige nach der Schule bereit hält. In Hartroda bei Gera übernehmen sie einen alten, verkommenen Pfarrhof. Ihre nichtbehinderten Mitbewohner*innen können sich als Pfleger*innen dem Arbeitszwang entziehen, ohne in der DDR als „asozial“ zu gelten.
Vernaldi studiert Theologie im Selbststudium, wird Prediger der Dorfkirche. Die Thüringer Landeskirche verweigert ihm die Ordination: Ein Pfarrer im Rollstuhl, das ginge nicht, er müsse doch die Hände zum Segen heben und Sterbenden treppauf beistehen können. Er predigt trotzdem weiter. Hartroda wird zum Magnet für Aussteiger*innen. Punks und Künstler*innen kommen, helfen mit, den Hof bewohnbar zu machen. Jedes Jahr feiern sie ihre Unabhängigkeit von System und Pflegeheim mit einem Festival.
Der Stasi missfällt das Treiben, vor allem Matthias Vernaldi, der als Chef-Organisator gilt. Sein Hausarzt bespitzelt ihn jahrelang, als operativer Vorgang „Parasit“, berichtet minutiös und voyeuristisch. Ende der 80er Jahre wird Matthias Vernaldi in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Er ist gut vernetzt, auch nach Westdeutschland, wohin er schon zu DDR-Zeiten als „nicht arbeitsfähiger“ Bürger reisen darf. 1994 zieht er nach Neukölln in eine eigene Wohnung, organisiert sich seine Assistenten selbst, fortan als ihr Chef.
Er wird zu einer der wichtigsten Figuren der Berliner Behindertenselbsthilfe, verhandelt bessere Entgelte für Assistenz, lässt sich vor der Senatsverwaltung für Finanzen in zehn Metern Höhe von einem Kran baumeln, besetzt Rathäuser. Schreibt Texte mit Empörung, Verve und Provokation. Ficken, Scheißen, Arsch und Schwanz kommen oft drin vor – Matthias Vernaldi war im besten Sinne unverschämt. Die Scham über die fremden Hände, die ihn täglich wuschen und fütterten, hat er umgedreht und produktiv gemacht: 2006 gründet er mit behinderten und nichtbehinderten Autor*innen das schamlos satirische Magazin „Mondkalb – Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen“.
Er mischt mit bei der „Behindert und verrückt feiern Pride Parade“, sitzt auf unzähligen Podien, engagiert sich für das Mahnmal der NS-„Euthanasie“-Opfer und gegen neue „Euthanasie“-Fans wie den Bioethiker Peter Singer. Im Jahr 2000 gründet er die Initiative „Sexybilities“, organisiert sexuelle Dienstleistungen für behinderte Menschen. In Hartroda hatte Vernaldi Liebhaberinnen – in Berlin wird er bekennender Freier, unterstützt Sexarbeiter*innen und die Hurenorganisation Hydra. Sex ist ihm wichtig, genauso wie Portwein und Schampus.
In seinem Wohnzimmer, vis-à-vis des Totenschädels, saß man und aß das exzellente Essen, das Matthias Vernaldi – die Hände seiner Assistenten dirigierend – gekocht hatte, und lachte über seine rabenschwarzen, lebensklugen Zoten. Als bibelfester Christ und Anarchist, als Feminist und Freier passte er in keine Schublade.
Seine Stimme wird fehlen, gerade jetzt, gerade hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“