Nachruf Ronnie Biggs: Der gerissene Gentleman
Er war der Postzugräuber und selbst als Touristenführer noch Legende: Ronnie Biggs. Bis zum Schluss wischte er Jack Slipper von Scotland Yard eins aus.
Er wusste schon immer, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, zu verschwinden. Ronnie Biggs, der legendäre englische Postzugräuber, ist seinem Verfolger Jack Slipper von Scotland Yard im Laufe mehrerer Jahrzehnte immer wieder entkommen.
Am Mittwoch, 50 Jahre nach dem Raub, ist Biggs im Alter von 84 Jahren gestorben – wenige Stunden bevor die BBC ihre aufwendige zweiteilige Dokumentation des Zugüberfalls ausstrahlte. Am 8. August 1963, Biggs' 34. Geburtstag, überfielen 16 Männer den Postzug, der von Glasgow nach London-Euston unterwegs war. Sie erbeuteten mehr als 2,6 Millionen Pfund – nach heutigem Geld wären das rund 55 Millionen Euro. Der Plan konnte minutiös ausgeführt werden, weil die Züge damals noch pünktlich waren.
Die Bewunderung für die dreiste Tat war in den Medien und bei der Bevölkerung recht unverhohlen, obwohl die Gangster den Lokomotivführer Jack Mills niedergeschlagen und schwer verletzt hatten. Er starb sechs Jahre später. Sein Sohn John Mills macht die Zugräuber noch heute für den Tod seines Vaters verantwortlich, aber er war in Wirklichkeit an Leukämie gestorben.
Die Engländer, jedenfalls die meisten, waren damals fast enttäuscht, dass die Gangster trotz der intelligenten Planung des Raubes so schnell gefasst wurden, der erste bereits sechs Tage nach der Tat.
In den offenen Möbelwagen gesprungen
Biggs wurde am 4. September verhaftet, weil er seine Fingerabdrücke in dem Bauernhaus hinterlassen hatte, in dem die Bande die Beute aufteilte. Um Nachahmungstäter abzuschrecken, wurden die Zugräuber zu 30 Jahren Haft verurteilt. Sie gedachten jedoch nicht, diese drakonische Strafe abzusitzen. Charlie Wilson war der erste, der im August 1964 entkam. Bei Biggs dauerte es ein Jahr länger. Er hatte 15 Monate in Wandsworth verbracht, als er auf die Mauer des Gefängnisses kletterte und in einen offenen Möbelwagen sprang.
Nach seiner Flucht war Biggs endgültig zur Legende geworden, und nicht nur in England: Im deutschen Fernsehen lief Ende der Sechziger ein mehrteiliger Film mit Horst Tappert in einer Hauptrolle, bevor er die Seiten wechselte und zu Derrick wurde. Man zitterte als Zuschauer mit Biggs und den anderen und freute sich, als sie zum Schluss aus dem Gefängnis entkamen. Schon der Titel machte die Räuber sympathisch: „Die Gentlemen bitten zur Kasse.“
Biggs hatte früh mit Gefängnissen Bekanntschaft gemacht. Er war das jüngste von fünf Kindern und wuchs im Londoner Arbeiterviertel Lambeth auf. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er verhaftet, weil er ausgebombte Häuser plünderte. Später wurde er wegen Ladendiebstahl, Einbrüchen und Autoklau verurteilt. Im Gefängnis lernte er Bruce Reynolds kennen, den späteren Kopf der Zugräuber. Als er ihn 1963 anpumpen wollte, bot ihm Reynolds statt dessen an, beim Überfall mitzumachen.
Nach seiner Flucht aus Wandsworth unterzog sich Biggs bei einem Chirurgen in Paris, der nach dem Weltkrieg Nazis auf der Flucht zu neuem Aussehen verholfen hatte, einer Gesichtsoperation und setzte sich mit seiner Familie nach Australien ab. Als seine Identität aufflog, verließ er seine Frau und drei Kinder und floh nach Brasilien. 1974 stand Jack Slipper bei ihm in Rio vor der Tür: „Lange nicht gesehen, Ron“, sagte Slipper. Er war vom Daily Express, dem Biggs ein Interview gegeben hatte, informiert worden.
Reklame für Diebstahlversicherungen
Aber auch dieser Versuch, Biggs wieder ins Gefängnis zu bringen, schlug fehl: Weil seine brasilianische Freundin schwanger war, wurde Biggs nicht ausgeliefert. Auch als er 1981 entführt und nach Barbados verschleppt wurde, schickten ihn die Behörden nach Rio zurück, statt ihn nach England auszuliefern. Zu der Zeit war er längst pleite.
Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Touristenführer, Journalisten mussten hundert Dollar pro Interview zahlen. Sein zweitgrößter Coup: Er machte im brasilianischen Fernsehen für Diebstahlversicherungen Reklame. Doch 2001, nach drei Schlaganfällen und einem Suizidversuch, kehrte er freiwillig nach England heim, weil er die dortige Gesundheitsversorgung der brasilianischen vorzog.
Im Gefängnis verschlechterte sich sein Zustand, er konnte nicht mehr laufen oder sprechen und wurde 2009 schließlich freigelassen. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate. Doch vor vier Monaten kam er im Rollstuhl zur Beerdigung seines alten Freundes Bruce Reynolds auf dem Londoner Highgate-Friedhof und zeigte den Journalisten den Stinkefinger.
Sein glückloser Verfolger Jack Slipper hatte nach Biggs' Rückkehr ins Gefängnis 2001 gesagt: „Die Sache hat mein Leben bestimmt, Ronnie hat mich berühmt gemacht. Es wäre mir eine große Befriedigung, wenn ich ihn überleben würde, um zu beweisen, dass meine Lebensweise am Ende besser war als seine.“ Doch auch diesmal behielt Biggs die Oberhand. Slipper starb bereits 2005 an Krebs.
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