Nachruf Ivan Nagel: Das Denken feiern
Für Ivan Nagel – Theaterintendant, Kritiker und Mentor – bestand die wirksamste Waffe gegen alle Ideologie in einer universalen Bildung. 80-jährig starb er am Montag.
„Fühlen und Denken derer, die um 1930 in Europa geboren wurden, begannen mit der Tötung von fünfzig Millionen anderer,“ diesen denkwürdigen Satz prägte Ivan Nagel im Oktober 2003 in der Frankfurter Paulskirche, wo er damals die Laudatio für Susan Sonntag, die Friedenpreisträgerin des Deutschen Buchhandels hielt. „Der Zweite Weltkrieg und die Schoah standen am Eingang unseres bewussten Lebens.“
Ivan Nagel, am 28. Juni 1931 in Budapest als Sohn eines Textilfabrikanten geboren, gehörte selbst zu dieser Generation, deren Handeln von den mörderischen Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhundert geprägt. Für ihn bestand die wirksamste Waffe gegen alle Ideologie in einer universalen Bildung, im Wissen um das Eigene wie das Fremde gleichermaßen. Und auch im Blick für das Relative jeglicher Wahrheit, die immer nur für einen Augenblick lang Gültigkeit erlangen kann. Weil sie im nächsten Moment eben schon zu Ideologie gerinnt.
Und so fand Ivan Nagel sein wichtigstes Wirkungsfeld in der flüchtigsten aller Künste, dem Theater. Als Siebenjähriger hatte er in Budapest den sogenannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland erlebt, die Auslöschung der Souveränität des Landes also, als dessen Bürger seine Eltern noch geboren worden waren, als Ungarn noch Teil der Habsburger Doppelmonarchie war. Von dem Tag an habe man zu Hause nicht mehr Deutsch, sondern nur noch Ungarisch gesprochen, so Ivan Nagel später in einem autobiografischen Interview.
Als er dreizehn Jahre alt war, besetzten die Nazis auch Budapest und die jüdische Familie Nagel musste untertauchen, um der Deportation zu entgehen. So überlebte Nagel als Jugendlicher die Deutsche Besatzung und den Holocaust im Untergrund. Vier Jahre nach der Befreiung Ungarns durch die Sowjetunion floh er vor der nächsten Diktatur in die Schweiz.
„Unerwünschter Ausländer“
In Paris, Heidelberg und Frankfurt am Main studierte Ivan Nagel Germanistik und Soziologie. 1955 soll der staatenlose Student als „unerwünschter Ausländer“ abgeschoben werden, was seine Frankfurter Lehrer Theodor W. Adorno und Carlo Schmidt verhindern können.
1958 nimmt Nagel die deutsche Staatsbürgerschaft an und schreibt zunächst Theaterkritiken, bevor ihn Hans Schweikart 1962 an die Münchner Kammerspiele holt. Zehn Jahre später übernimmt er als Intendant das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, wo er sich einer radikalen Zeitgenossenschaft verschreibt. Legendär werden unter seiner Leitung besonders die Inszenierungen von Peter Zadek.
Doch obwohl das Hamburger Schauspielhaus unter der Intendanz Nagel eine der meistdiskutiertesten westdeutschen Bühnen wird, ist der konservativen Pfeffersackfraktion in der Stadt das Theater zu links, zu radikal und die Schauspieler auf der Bühne zu oft unbekleidet. So beendet Nagel seine Intendanz vorzeitig.
Zum Abschied veranstaltet er im Mai 1979 ein großes Theaterfest: das „Theater der Nationen“, ein Festival, in dem sich nicht nur unterschiedliche Theaterländer präsentierten, sondern auch die unterschiedlichsten Formate. Als Präsident des Internationalen Theaterinstituts entwickelte Ivan Nagel das Konzept dann 1981 als „Theater der Welt“ zur Serienreife.
Erfinder der Berliner Volksbühne
Nach der Wende wurde Nagel zum Architekten der Theaterlandschaft im wiedervereinigten Berlin, die auf der Basis seines berühmt gewordenen Gutachtens neu strukturiert wurde. So kann man ihn auch als Erfinder so legendärer Institute wie der Berliner Volksbühne bezeichnen, verdanken ihm nicht zuletzt Frank Castorf und Matthias Lilienthal ihre Installierung am Rosa-Luxemburg-Platz Mitte der Neunziger Jahre.
Neben seiner weiträumig denkenden Tätigkeit als Theaterpraktiker und -ermöglicher ist Nagel immer wieder publizistisch tätig gewesen, als Kritiker für die Süddeutsche Zeitung oder als New-York-Korrespondent der FAZ. Seine Bücher über Mozarts Opern, die Malerei der Renaissance oder das Theater heben die Gattungsgrenzen oft aus den Angeln und sind dabei stets auch eine Feier des frei denkenden und schaffenden Subjekts. Am Montag ist Ivan Nagel im Alter von achtzig Jahren in Berlin gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut