Nachdenken über Raum und Zeit: Das Gefühl Fernheimweh
Manchmal kann die Berliner Sonnenallee sich anfühlen wie 8.400 Kilometer südöstlich. Warum? Die Serie „Dark“ liefert die Antwort.
![Ein aufgeschnittenes Stück Wassermelone Ein aufgeschnittenes Stück Wassermelone](https://taz.de/picture/4273099/14/Wassermelone-1.jpeg)
J edes Jahr im Sommer packt mich das Fernheimweh. Ich gehe dann die Sonnenallee hinunter, an offenen Garküchen vorbei und durch Dampfschwaden hindurch, es riecht nach frisch gebackenem Brot, nach Grillfleisch, nach Frittieröl.
Neben mir laufen nackte Füße in Plastikschlappen; wenn ich die Augen schließe, ist die Sonnenallee kurze 8.400 Kilometer weiter südöstlich, und wenn ich in ein matschiges Stück Wassermelone trete, erinnere ich mich, dass mein Herz noch da ist. Weil ich dann noch mehr eingehen will in meinem Fernheimweh, gucke ich zu Hause Youtube-Videos, in denen Ü-50-Frauen in Daunenjacken zu klimpernder Fahrstuhlmusik shanghainesische Gerichte ihrer Kindheit zubereiten.
Ich habe neulich versucht, alle Dinge in meiner Wohnung zu zählen, die mit China zu tun haben. Ein Großteil sind Bücher, Essstäbchen, Porzellan, Schmuck und Kleidung. Manches ist sofort ersichtlich (Objekt #38: ein Beistellschränkchen aus dem chinesischen Antiquitätenladen, der aus dem Kiez weggentrifiziert wurde), manches gar nicht, wenn man die Dinge nicht kennt (Objekt #2: eine alte Schieferziegel vom Geburtshaus meiner Großmutter).
Bei 108 habe ich aufgehört zu zählen, weil mir die Zahl immens belastend vorkam. Ich musste an Marie Kondo denken und Dinge, die joy sparken, und ich musste mich fragen, wie obsessiv Menschen (ich) damit sind, Gegenstände zu sammeln, auszustellen und wegzusortieren.
Dinge, die Gefühle sparken
Vor ein paar Wochen habe ich die neue Staffel „Dark“ geguckt, darin geht es auch ums Zeitreisen. Irgendwann erkennen die Protagonist:innen, dass die Frage nicht lautet, wo jemand oder etwas ist, sondern wann. Und weil es parallele Universen zu geben scheint, sind Momente und Dinge und Menschen zum Beispiel sowohl 1921 als auch 2019. Diesen Gedanken finde ich sehr logisch. Schließlich transportieren Dinge Geschichte und Geschichten, jedenfalls solche, die Gefühle sparken. In der Netflix-Serie heißt das: Alles ist miteinander verbunden.
Was, wenn 108 Dinge nicht nur jetzt sind, sondern auch früher? Wenn von jedem Essstäbchen aus dünne Fäden wie Spinnweben von hier bis an den Ort und die Zeit ihrer Herkunft verlaufen? Kein Wunder, dass das belastend ist. In einem nicht genau zu bestimmenden Jahr in den 1920ern wurde Abu unter Schieferziegeln geboren, fast 100 Jahre später liegt eine dieser Ziegeln auf einem Berliner Regalbrett.
Fernheimweh sehnt sich nicht nur nach einem Ort, sondern auch nach einer Zeit, sonst wäre es niemals so romantisch. Auf der Sonnenallee tritt eine sehnsüchtige Dreißigjährige im Jahr 2020 auf ein matschiges Stück Wassermelone, und in einem ostchinesischen Dorf schaut eine faszinierte Vierjährige im Jahr 1994 dabei zu, wie kräftige Männerhände kühle Wassermelonen aus einem Brunnen hieven. Und ganz kurz ist beides zwar 26 Jahre voneinander entfernt, aber eben trotzdem gleichzeitig.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!