: Nach sieben Hefen
Vom Trost durch die Kunst bei Fahrradverlust
Ja, schlimmer als Kleinkinderficken, Robbenbabyentkleiden oder Hostienbespein ist das Fahrradeigentümer/Fahrrad-Entzwein
Oh, wie Recht er hat, der große Tomayer – in jeder Zeile seiner alttestamentarischen Abrechnung mit den schlimmsten aller Verbrecher, den Fahrraddieben. Den Verlust, den gewaltigen, in Worte fassen, die Leere der Stelle, wo es stand, das Rad, die wortlose Wut: Er überzieht den kahlen Ort mit mächtigen Gewittern und lässt den Donner mit voller Wucht auf die Seiten peitschen. Hat er die Lenkerhörner nicht mit Diebeshand gepackt? So seien ihm die Hände fein am Pulspunkt abgehackt. Die letzten Tage mit dem Rad, sie gewinnen an Kraft und Bedeutung. Waren denn nicht auch wir, die Wahrheit und ich, waren wir uns nicht kurz vorm Klau auf unseren Rädern näher gekommen? Hatte sie nicht jüngst von Hollandrad zu Rennrad die Frage in den weichen Fahrtwind zu mir herübergereicht, die Frage nach der Wahrheit? „Willst du nicht etwas für die Wahrheit schreiben?“
Und was hatte ich nicht nachgedacht die nächste Zeit, über die Wahrheit. Ich, sieben Hefe usw. gingen mir durch den Kopf, nur, steckte im Bier und mir etwa schon die Wahrheit? Musste da nicht noch etwas Drittes her? Doch das Leben mit der Wahrheit holte mich schnell ein. Als Fluch, so wurde mir klar. Denn nur zwei Tage nach der netten Begegnung auf dem Rad ging ICH nach SIEBEN HEFEN aus der Kneipe und MEIN FAHRRAD war weg. Fahrraddiebe traten ungefragt in mein Leben und hinterließen dort eine Lücke, selbst angst und schwermut und all diese Vokabeln, die es ins Englische geschafft haben, konnten diesen Leerstand nicht füllen. Sah es so also aus, das Leben der Wahrheitsschreiber, prosaische Scheiße erleben dürfen und die dann in Pointen packen? Schöne Scheiße.
Freund D. erzählte ich diese Fakten am nächsten Morgen am Telefon, und er verstand mein Leid. Ja, das ist schlimm, sagte er, und fragte direkt nach, ob ich nicht Zeit hätte, es gebe da ein Gedicht von Tomayer. Oh ja, ich hatte Zeit, und es folgten fünf wunderbare Minuten der Erleichterung. Poesie gegen die Scheiße, das hatte nichts mit sieben Hefen zu tun und nur indirekt etwas mit mir; Worte gegen das Leid, intoniert von der passenden Stimme, das tat gut. Doch irgendwann war leider Schluss, ein letztes knurriges, angemessen gedehnt gepresstes: Und da ist keiner, Raddieb, der für dich um Gnade fleht. Und es begleitet dich ins Nichts die letzte Ölung nicht noch ein Gebet. Amen. Mein Leid ward besungen. Danke schön. Mehr kann die Kunst leider nicht bieten.
Ich denke an mein Rad und halte Ausschau. Seit einer Woche nun fahre ich schon mit dem Auto und mit der Bahn durch die Stadt. Der Sommer gibt sich langsam Mühe. Heute umgehe ich einen Stau und schleiche Richtung Freibad. Ich fahre an einer Kneipe entlang. Ich fahre an der Kneipe entlang, wo mein Fahrrad an der Mauer lehnte und, zuverlässig wie immer, auf mich wartete. Ich denke an mein Fahrrad. Ich fahre weiter und biege um die Ecke. Vorher werfe ich noch einen kurzen Blick auf den angrenzenden Platz. Ich sehe ein Fahrrad an einer Mauer lehnen. Ich sehe ein Rad an einer Mauer lehnen mit einem extrem herausgezogenen Sattelstengel. Ich fahre weiter. Ich sah ein Rad . . . Ich halte an. Ich gehe zurück zum Platz. Liebe Wahrheit, liebe Kunst, mein Rad lehnt an der Mauer. Es steht da, abgeschlossen und nicht, wie man denken könnte, zur traurigen Acht geformt, sondern unversehrt und so, wie mir scheint: ausgesetzt. Sind die Fahrraddiebe bekehrt worden, haben sie Tomayer gelesen? Ich weiß es nicht. Ich nehme mein Rad an die Hand und schließe es sanft an den nächsten Zaun. Dann gehe ich schwimmen. Die Hinterköpfe zweier Zickzackrückenschwimmerinnen, es musste ja so kommen, klocken mit dem Geräusch zweier Kokosnüsse aneinander.
HENNING HARNISCH
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