■ Nach den Urteilen von Wuppertal: Deutsche Justiz und Rechtsstaat gehen nicht härter gegen rechts vor
Ich protestiere auf das schärfste gegen die Einzelurteile und ihren Gesamttenor im Verfahren gegen die beiden Mörder von Wuppertal, Andreas Wember und Michael Senf, und ihren Komplizen Marian Jan Glensk, Besitzer der Bar, wo der Mord an Karl Hans Kohn am 12. November 1992 geschah.
Ich empöre mich vor allem gegen den Urteilspassus, der die Täter „wegen Trunkenheit“ entlastet und damit den einzigen Spruch verhindert hat, der der Untat angemessen gewesen wäre: lebenslange Haft.
Das Studium des Tathergangs läßt keinen Zweifel daran, daß die Mörder von Karl Hans Kohn vorsätzlich gehandelt, daß sie mit kalter Methodik und professioneller Brutalität getötet haben. Indem sie das Opfer über 60 Kilometer mit dem Auto an die niederländische Grenze bei Venlo brachten, haben sie genug klaren Verstand bewiesen, die Spuren ihres Verbrechens zu verwischen. Die These von der „Volltrunkenheit“ (wann wurde der Test gemacht?) ist der schwächste Punkt in der Urteilsbegründung, aber der entscheidende Entlastungsfaktor.
Aus der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland erreichen mich seit Verlautbarung des Urteils Stimmen großer Beunruhigung und lauten Protestes. Da das Motiv der Mörder die irrtümliche Annahme war, sie hätten es bei Kohn mit einem Juden zu tun, ist der Ausgang des Wuppertaler Verfahrens von dieser Gemeinschaft mit erhöhter Aufmerksamkeit registriert worden. Ich teile mit vielen meiner jüdischen Mitbürger und -bürgerinnen in keiner Weise die jetzt häufig zu hörende Ansicht, das Urteil von Wuppertal zeige „Biß“ und beweise, daß der Rechtsstaat und seine Justiz nunmehr härter gegen die demokratie- und verfassungsfeindliche Rechte vorgehe. Welche Meßmodelle werden da bemüht? Etwa die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – schwachen Sprüche gegen rechte Gewalttäter, mit denen die deutsche Justiz bisher aufgewartet hat? Dann muß es erlaubt sein, ins Gedächtnis zu rufen, daß in Verfahren gegen linke Terroristen schon die indirekte Beteiligung für lebenslange Haft ausreichte!
Das Wuppertaler Urteil vermindert die prekäre Situation für Juden in Deutschland nicht, sondern erhöht sie. Die nur relativ härter als bisher ausgefallenen Strafen vom 7. Februar 1994 gegen Täter an der Front des Ausländerhasses und des Antisemitismus werden zum Alibi für die Verkünder einer „neuen Ära“ des Rechtsstaates werden. Die eigentliche, viel größere Gefahr, der legale, eindeutig als nazinah oder naziidentisch erkennbare Dschungel des deutschen Rechtsextremismus, wird davon überhaupt nicht berührt und existiert unversehrt weiter.
Bei dieser Gelegenheit und nota bene: Gegen mich läuft ein (vom 3. Dezember 1993 auf den April 1994 vertagter) Prozeß, weil ich einen Oberstaatsanwalt beschuldigt habe, die Verfahrenseröffnung gegen einen mordverdächtigen NS-Täter vorsätzlich hintertrieben zu haben. In einem staatlich subventionierten Film dagegen konnte der (von Berufs wegen) Neonazi Althans in der gesprengten Gaskammer von Auschwitz erklären, es habe dort nie Vergasungen gegeben, ohne daß dem Gesetzesbrecher auch nur ein Haar gekrümmt wird.
Wann, darf gefragt werden, wird für Juden in Deutschland endgültig die Schmerzgrenze erreicht sein? Ralph Giordano
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