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Nach den Straßenkämpfen in TibetDer Dalai Lama ist tabu

Chinas Regierung macht Propaganda gegen "bösartige separatistische Kräfte". Die Tibeter haben Angst und fühlen sich von Gott und der Welt verlassen. Taz-Reporter Georg Blume berichtet aus Lhasa.

Weniger Angst vor der chinesischen Polizei als die Tibeter: Demonstrant in Delhi. Bild: reuters

LHASA taz Es ist der Tag nach der Revolte. Eine tibetische Familie steht im Zentrum von Lhasa am Ufergeländer eines Gebirgsbaches. Sie hat einen zehnjährigen Jungen mit kurzen Haaren. An normalen Tagen würde der Junge wohl auf den berühmten Potalapalast deuten, dessen goldene Dächer nicht weit von ihm im Himmel funkeln. Stattdessen richtet er aufgeregt den Zeigefinger auf ein ausgebranntes Auto an der anderen Uferseite. "Ich habe es brennen sehen, als ich gestern um fünf aus der Schule kam", erzählt er hastig. Er habe noch viel mehr gesehen: wie vier chinesische Polizisten einen Tibeter verprügelten. "Sie haben ihn verfolgt und immer wieder auf ihn eingeschlagen", sagt der Junge.

Gegen die Lüge

Die Peter-Weiss-Stiftung ruft zum dritten Mal zu einer weltweiten Lesung "zum Jahrestag der politischen Lüge" am 20. März auf. Im Mittelpunkt steht diesmal der Essay des chinesischen Schriftstellers Lu Xun "Ich erinnere mich, um zu vergessen". In dem Aufruf der Stiftung heißt es, aus Anlass der Olympischen Spiele in Peking sei es "nötig, auf die Zensur, das verordnete Schweigen, auf die enorm hohe Zahl von Todesurteilen, auf Tibet, auf die Zusammenarbeit mit dem Regime im Sudan und nicht zuletzt auf die Gefängnisstrafen für Bürgerrechtler hinzuweisen".

Die Eltern lassen das Kind an ihrer Stelle reden. Sie starren auf die breite Straße hinter dem anderen Ufer: Dort fanden am Vortag Straßenkämpfe von einer Gewalt und Heftigkeit statt, wie sie die meisten Bürger von Lhasa nie erlebt haben und sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnten. Der letzte Aufstand liegt 20 Jahre zurück. Damals war Lhasa eine bitterarme Kleinstadt, heute ist es fast schon eine wohlhabende Großstadt.

Auch den Eltern des kleinen Jungen geht es nicht schlecht. Sie haben ein kleines tibetisches Restaurant. Das verschonten die Demonstranten. Sie beschmissen nur die chinesischen Läden mit Steinen, rissen den Wellblechschutz vor Tüten und Fenstern ein, warfen ihre Möbel, Kühlschränke und Fahrräder auf die Straße und zündeten sie an.

Die Familie kann die Überreste der Verwüstung sehen, die rauchende Asche, die vielen Glasscherben und die dicken ausgerissenen Mauer- und Bordsteine. Warum musste das passieren? "Weil uns die Chinesen dauernd ärgern", sagt der Junge. Ob das der Dalai Lama schön fände? Das geht der Mutter zu weit, jedes Wort über den Dalai Lama kann Schwierigkeiten bringen, gerade jetzt. Sie zieht ihren Sohn am Kragen und bedeutet ihm zu schweigen. Der aber bleibt unerschrocken: "Die anderen haben Angst, aber ich bin mutig", ruft er laut.

Im Restaurant der Familie sitzen nur Tibeter. Die niedrigen, mit bunten Blumenmotiven bemalten Tische stehen eng zusammen. Jeder versteht hier jedes Wort. Im Fernseher läuft das offizielle chinesische Staatsfernsehen in tibetischer Sprache. Dumpf dröhnen die Sprüche des Nachrichtensprechers, von der "Dalai-Lama-Clique", die alles vorbereitet habe und an allem schuld sei. Dazu die Bilder von randalierenden Jugendlichen, die mit Äxten auf Ladentüren einhauen. Die älteren Gäste schlürfen Tee mit Yakmilch und bleiben stumm.

Die Stimmung ändert sich, als zwei junge Männer in Turnschuhen und Anorak Nudelsuppe und Bier bestellen. Gestern sei der Tag gewesen, an dem es die Tibeter den Chinesen einmal gezeigt hätten, sagen sie. Sie wirken deshalb nicht traurig. Die Chinesen hätten bei den friedlichen Demonstrationen der Vortage drei Mönche umgebracht. "Sonst hätten wir nicht losgeschlagen", sagen sie. Die Opfer seien alle Tibeter gewesen. "Wir haben ja nur Steine und Messer, sie haben Gewehre und können uns einzeln erschießen", sagen sie. Sie hätten eine Frau gesehen, die über die Straße gelaufen und erschossen worden sei.

Den älteren Tibetern wird das Gerede zu gefährlich: Sie verlassen fluchtartig das Lokal. Die jungen Männer aber erzählen von den Motiven ihrer Revolte. Dass sie kaum eine Chance auf Schulbildung gehabt hätten, jetzt keine Arbeit fänden und die Chinesen nun auf ihre Kosten reich würden. Dass die Preise stiegen und eine Jeans jetzt 70 statt bisher 30 Yuan kosten würde (umgerechnet 7 statt 3 Euro). "Die Chinesen betrügen uns um unser Geld", sagen sie. Und der Dalai Lama? "Keiner hilft uns. Nicht einmal Gott." Trotzdem würden sie den Dalai Lama verehren. Sie wüssten auch, dass er die Dinge friedlich lösen wolle. Sie wünschten sich, dass er zurückkomme. "Wir haben ihn nie gesehen", sagen sie. Das klingt fast nach einer Entschuldigung dafür, dass sie seiner gewaltfreien Lehre nicht folgen.

In dem Schwanken zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit aber liegt das große Problem der tibetischen Revolte. Auch drüben im indischen Exil mangelt es dem Dalai Lama an Eindeutigkeit. Er findet entschuldigende Worte für die Randale in Lhasa: Es läge an der Brutalität der chinesischen Herrschaft über Tibet.

Genau diesen Widerspruch aber nutzt die chinesische Regierung: Hemmungslos zieht ihre Propaganda jetzt über die "bösartigen separatistischen Kräfte" her und versucht vor allem den Krieg der Bilder zu gewinnen: Axthiebe gegen friedliche Sicherheitskräfte.

Das chinesische Staatsfernsehen war vor Ort, CNN nicht. Schon geraten die friedlich demonstrierenden Mönche in Vergessenheit, welche die Revolte auslösten. Die Tibeter im Exil sprechen von 80 tibetischen Toten, die chinesische Regierung von 10 Toten, darunter auch Chinesen. In Lhasa gibt jeder eine andere Einschätzung der Opferzahlen.

Tatsächlich ähnelt die schöne Tempelstadt jetzt einem von den Siegern beherrschten Schlachtfeld. An jeder Straßenecke demonstriert die in Großverbänden einberufene Militärpolizei ihre Stärke, überall liegen noch die Trümmer der Ausschreitungen. Währenddessen scheint warm die Sonne über der Stadt, denn mit der Revolte brach auch der Frühling aus. Und beide locken am Tag nach den Unruhen das Volk auf die Straßen. Nebeneinander stehen Tibeter und Chinesen in dichtgedrängten Scharen und schauen dem Spektakel der Sicherheitskräfte zu. Wie die Militärpolizei mit schweren Panzerfahrzeugen anrückt. Wie zweihundert grüne Lastwagen mit tausenden von Militärpolizisten auffahren, die jeder ein Gewehr mit silbern blinkender Bajonettspitze tragen. Die militärische Gewalt, die sich den Bürgern Lhasas hier so direkt zeigt, aber bleibt ohne Abbild für die chinesische und weltweite Öffentlichkeit.

Tibeter und Chinesen in Lhasa aber reagieren unterschiedlich. Die Tibeter am Straßenrand sagen: "Das macht uns keine Angst." Die Chinesen sagen: "Die Militärpolizei schützt uns." Versöhnlich wirkt nur, dass alle auf engem Raum zusammenstehen und in den Stadtvierteln auch zusammenwohnen. Dort findet man viele gemischte Familien. Sie sagen, dass vor allem die ökonomische Segregation in den letzten Jahren zugenommen hätte. Chinesen kämen mit Geld und besserer Ausbildung nach Lhasa. Sie würden ihren tibetischen Angestellten oft niedrigere Löhne als den Chinesen zahlen, das hätte bei dem Aufstand eine größere Rolle gespielt als der alte Religions- und Kolonialkonflikt. Im Gründe hätte es in der letzten Woche zwei Revolten gegeben: die der Mönche, die zeitlich im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen steht, und die der chancenlosen tibetischen Jugendlichen.

Nun scheint es, als würde erst mal die Revolte der Mönche weitergehen. Am Sonntag demonstrierten einige tausend Mönche und andere Tibeter in der benachbarten chinesischen Provinz Sichuan. Der Protest formierte sich nach einer morgendlichen Gebetsstunde im Amdo-Kloster und verlief friedlich.

Am Samstag waren Mönche auch in der Stadt Xiahe in der Provinz Gansu auf die Straße gegangen. Die Mönche forderten wie schon zuvor in Lhasa die Unabhängigkeit Tibets und die Rückkehr des Dalai Lama. Ob ihnen nun wieder die Jugendlichen folgen werden? Eine urbane tibetische Kultur wie in Lhasa gibt es den anderen Provinzen kaum.

Welche tibetische Kultur aber meint der Dalai Lama, wenn er jetzt eine Untersuchung fordert, ob in Tibet ein "kultureller Völkermord" stattfinde? Geht es noch um die Klöster, die einst die Kulturrevolutionäre zerstörten? Oder geht es auch um die moderne, mit dem Tourismus und dem chinesischen Privatkapitalismus verwobene tibetische Lebenskultur in einer Stadt wie Lhasa?

Die beiden jungen Männer haben am Tag der Revolte ein Erlebnis, von dem sie später belustigt erzählen. Sie sitzen in einem chinesischen Restaurant in Lhasa und essen Nudeln. Da kommt ein Demonstrant auf sie zu und gibt einem von ihnen eine Ohrfeige. Er sagt, sie sollen tibetische Nudeln essen. Also schließen sie sich den Demonstranten an. Aber man merkt den beiden schon bei ihrer Erzählung an, dass sie im Grunde nichts gegen chinesisches Essen haben. Dauernd ärgern lassen wollen sie sich von den Chinesen dennoch nicht.

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