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Nach dem Schlussstrich beginnt`s von vorn

Rückkehr nach Europa (I): Wenn der Westen Schwierigkeiten hat, Polen zu verstehen, liegt das vor allem auch an dem Wörtchen „koniec“. Das bedeutet auf Polnisch zwar „Ende“, aber niemand verbindet damit einen Abschluss. Nichts hört einfach auf, Verhandlungen nicht und Debatten schon gar nicht

Urteile setzen Prozessen zwar ein formales Ende, aber geklärt ist nichts

von GABRIELE LESSER

Seit die Koalitionspartner in Polen im Streit auseinander gegangen sind, arbeiten sie ganz hervorragend zusammen. Die konservative Wahlaktion Solidarność (AWS) stellt die Minderheitsregierung, die liberale Freiheitsunion (UW), nun in der Opposition, unterstützt die Regierung, wo sie nur kann. Zu vorgezogenen Neuwahlen, wie noch vor einem halben Jahr vorausgesagt, wird es nicht kommen. Dafür bereitet sich die Freiheitsunion intensiv darauf vor, nach den nächsten Parlamentswahlen eine Koalition mit den Postkommunisten einzugehen. Das Bündnis mit der Demokratischen Linksallianz (SLD) könnte dann nach anderthalb Jahren genauso scheitern wie jetzt die Koalition mit der AWS. Und die dann von der SLD geführte Minderheitsregierung könnte mit Unterstützung der dann wieder oppositionellen Freiheitsunion stabil weiterregieren.

In Polen würde ein solches Szenario niemanden wundern. Die Kommunikationsstrukturen und -prinzipien sind völlig andere als in Westeuropa. Dies wirkt sich auch auf den politischen Willensbildungsprozess oder die Verhandlungsstrategien im Wirtschaftssektor aus. Besonders augenfällig und für Polen-Neulinge gewöhnungsbedürftig ist das Fehlen eines Endes. So bedeutet das polnische Wort koniec zwar „Ende“, doch niemand verbindet damit tatsächlich so etwas wie den Endpunkt oder Abschluss eines Prozesses. Koniec steht vielmehr für eine Warnung, im Sinne von: „Jetzt ziehen wir hier aber mal ganz andere Seiten auf!“ oder: „Jetzt erst recht, aber auf unsere Art!“ Insofern bedeutete das Ende der Regierungskoalition im Juni 2000 die Fortsetzung der Koalition „mit anderen Mitteln“. Sie funktioniert seit nunmehr einem halben Jahr ganz hervorragend.

Das Fehlen des „End“-Begriffes hat den polnischen Staat schon viel Geld gekostet. Nicht nur bei Privatisierungen großer Staatsunternehmen fällt Ministern oft erst nach der Vertragsunterzeichnung ein, dass der ausgehandelte Vertrag gegen die Staatsräson Polens verstößt und damit ungültig ist, was zu hohen Schadensersatzforderungen der betreffenden Firmen führt. Auch in Straßburg ist Polen bereits als Land aktenkundig, das seinen Bürgern endlos lange Gerichtsverfahren zumutet. Da sich immer mehr Polen in Straßburg beschweren, muss der polnische Staat immer häufiger in die Tasche greifen und Entschädigungen auszahlen.

Für die EU-Beitrittsverhandlungen gilt dasselbe. Zwar wird seit Frühjahr 1998 ein Kapitel nach dem anderen nach jeweils monatelangen zähen Verhandlungen geschlossen, doch in der Öffentlichkeit gelten diese jeweiligen „Abschlüsse“ als nicht verbindlich. Verhandelt wird, weil die EU das so will; aber wenn am Ende ein Ergebnis steht, das nicht den eigenen Erwartungen entspricht, dann ist das Ergebnis eben nur ein koniec und wird bei nächster Gelegenheit wieder aufgedröselt. Spätestens dann, wenn Polen in der EU ist.

Doch nicht nur Ausländer haben mit der polnischen End-Losigkeit ihre Schwierigkeiten. Auch die Polen selbst leiden daran, mitunter allerdings höchst genussvoll, wie es scheint. Das berühmteste Beispiel ist die Antrittsrede Tadeusz Mazowieckis, die er Ende 1989 als erster nicht kommunistischer Ministerpräsident Polens nach 1945 hielt. Darin war die Rede vom „dicken Strich“, den die neue Regierung unter die kommunistische Vergangenheit des Landes ziehen wolle. In Polen beginne nun die Ära von Demokratie und Marktwirtschaft. Auf deren Aufbau seien alle Kräfte zu konzentrieren. Die Folge des „Schluss“-Striches war und ist eine bis heute geführte Debatte über die richtige Form der Vergangenheitsbewältigung. Auch wenn heute die „Durchleuchtung“ von Personen, die ein hohes Staatsamt anstreben, allgemein akzeptiert ist, so werfen die Durchleuchtungs-„Prozesse“ doch immer wieder die Frage auf, ob sie denn nun tatsächlich die richtige Form der Vergangenheitsbewältigung seien: In den Prozessen wird natürlich kein endgültiges Urteil darüber gefällt, ob jemand vor 1989 für den Geheimdienst gearbeitet hat oder nicht. Der Verurteilte ist also nicht unbedingt schuldig und auch der Freigesprochene nicht unbedingt unschuldig.

Was Ausländer an diesen Prozessen, die nur so heißen, aber natürlich im strafrechtlichen Sinne keine sind, noch mehr verwirrt, ist die Tatsache, dass auch der Schuldige freigesprochen wird und unschuldig ist, wenn er sich denn schuldig bekennt. Mit einem Schuldeingeständnis nämlich sagt der Angeklagte zu seiner Vergangenheit koniec. Wo aber ein Ende ist, kann ein Schlussstrich gezogen werden und alles von vorne beginnen. Deshalb sind die sich schuldig bekennenden Schuldigen unschuldig und können wieder Staatsämter bekleiden. Da die Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden – immerhin geht es bei der Durchleuchtung von Politikern um „höchste Staatsgeheimnisse“ –, sind die Urteile bei der Bevölkerung umstritten. Denn Urteile, deren Zustandekommen nicht überprüft werden kann, setzen dem Durchleuchtungsprozess zwar ein formales Ende, aber geklärt ist am Ende nichts.

Die Frage „Wie seht das Ende des Ende aus?“ wird aber nicht eigentlich diskutiert, da ja die meisten Polen davon überzeugt sind, dass es gar kein Ende gibt. Dies wirkt sich auf alle Debatten, Diskussionen und Verhandlungen aus. Sie werden nicht ergebnisorientiert geführt, sondern in konzentrischen Kreisen.

So diskutiert die Elite des Landes schon seit Jahren und mit größtem Engagement die Frage, ob Polen so etwas wie eine Elite braucht und warum die großen Intellektuellen des Landes zwar noch einen Nimbus haben, aber niemand mehr auf sie hört. Diese Diskussion kann noch Jahre weitergeführt werden, da niemand ein Argument sucht, das die Diskussion abschließen könnte. Die Diskussion selbst ist die Antwort. Anders gesagt: „Der Weg ist das Ziel.“

Zu großen Debatten kommt es daher nur dann, wenn jemand es wagt, das kulturelle Gedächtnis der Polen anzugreifen und zu Mythen erstarrte historische Wahrheiten zu hinterfragen. Auch diese Debatte wird open end geführt, doch in diesem Falle kann sie auch gar nicht auf ein Ergebnis hin angelegt sein. Das kulturelle Gedächtnis ist dynamisch. Es ändert sich mit neuen Fragen und Antworten, die wieder neue Fragen aufwerfen. Seit Jahrhunderten finden Polen in dieser Debatte ihre Rolle in Geschichte und Gegenwart. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte das bisherige Selbstverständnis als „Opfer der Geschichte“ ausgedient. Seit Jahren suchen Polen nun schon nach ihrer neuen europäischen Identität, die sie gleichziehen lässt mit den Westeuropäern. Längst schon leben sie nicht mehr in der Vergangenheit. Das hängt auch damit zusammen, dass mit dem Ausfüllen der historischen weißen Flecken der bisher mythische Charakter der „guten Gesellschaft“, die sich solidarisch gegen Feinde von außen zur Wehr setzt, schwindet. Eine Gesellschaft, deren historische Selbstvergewisserung kein festes Fundament mehr findet, sucht nach Symbolen, die auch das Ausland als polnisch anerkennen kann. Und so werden alle Staatsgäste Polens auf den historischen Symbolpfad geschickt – ohne Gnade und ohne Ende, immer wieder und immer wieder.

Staatsgäste werden auf den historischen Symbolpfad geschickt – immer wieder

Dabei missachten polnische Politiker allerdings oft, dass Auschwitz, die Friedhöfe der Kriegsgefallenen oder die Denkmäler für gescheiterte Aufstände zwar alle ein Bild Polens vermitteln, aber nicht unbedingt das einer modernen Demokratie. Einerseits will Polen das Opfer-Image abstreifen, andererseits hat das Land noch kein Symbol für das neue Polen, das in Zukunft eine aktive und positive Rolle in Europa spielen will. So werden den westlichen Staatsgästen immer wieder die alten Symbole vorgeführt, allerdings in der Hoffnung, dass jene heute etwas anderes transportieren als noch vor zehn Jahren. Da sie dies aber nicht tun, verfestigt Polen im Westen das Bild des ewigen Verlierers.

Wie schwer es ist, nicht nur für sich selbst, sondern auch nach außen hin ein neues Polen-Bild aufzubauen, zeigen die Versuche mit nicht historischen Symbolen. Auf der Expo in Hannover ließen Störche auf den Holzhäusern in Masuren Polen als ein Naturparadies erscheinen, damit allerdings auch als ein Land, das weitab liegt von jeder Zivilisation. Da Polen sich allerdings nicht mehr zu den Naturvölkern zählt, wurde der Storch als Symbol wieder gestrichen. Auf der Buchmesse in Frankfurt startete das Land einen neuen Versuch, diesmal mit einem prallen Apfel. Allerdings ließ der eher Assoziationen an eine Computerfirma aufkommen denn an Polen. So ist auch der Apfel wieder in der Versenkung verschwunden.

Der bislang letzte Versuch, diesmal von Präsident Kwaśniewski lanciert, dürfte ebenfalls keine große Überlebenschance haben: Polen als „Westberlin des Ostens“ vergrätzt nicht nur die Nachbarn Polens im Osten, sondern wirkt auch zu deutsch. Natürlich wären die Polkas und Masurkas Frédéric Chopins ein hervorragendes Symbol, oder aber – wenn man die gute Nachbarschaft zu Deutschland betonen wollte – die Entdeckungen Nikolaus Kopernikus’. Aber damit wäre ja die Debatte zu Ende. Und das wäre noch schlimmer als eine neue Identität: Es wäre das ENDE.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme 1989/90 bedeutete für viele Staaten Mittel- und Osteuropas den Startschuss für ihre „Rückkehr nach Europa“. Diese Rückkehr manifestiert sich ganz konkret in den Beitrittsverhandlungen, die die Europäische Union mit zehn dieser Länder führt. Im Vordergrund dieser Gespräche stehen politisch-ökonomische Fragen. Doch wie der Streit um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Tschechien zeigt, interessiert mehr denn je die Frage nach der politischen Kultur dieser Länder. Der Eigensinn steckt auch hier in den Details, denen wir in einer Folge von Artikeln nachgehen wollen.

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