Nach dem Krieg in Gaza: Bei Kritik schießt die Hamas ins Knie
Die Islamisten im Gazastreifen nutzten den Krieg mit Israel für die Abrechnung mit politischen Gegnern. So mancher Fatah-Anhänger ist enttäuscht über Israels Truppenrückzug.
Ramis Dour lehnt seine Krücke an die Wand und stemmt mithilfe beider Hände sein linkes Bein aufs Bett. Seit Anfang des Monats verbringt er die meiste Zeit des Tages liegend. "Eigentlich sollte ich das Bein mehr bewegen", sagt er mit schlechtem Gewissen und greift zu einer Schachtel Zigaretten. Hamas-Kämpfer haben ihm zwei Kugeln ins Knie gejagt. "Sie wollten mich nicht wirklich schwer verletzten", sagt Ramis. Es sei eine "sanfte Warnung" gewesen.
Die beiden Einschusswunden sind innerhalb weniger Tage gut verheilt. Nur um die Versteifung und die Schwellung zu lindern, muss Ramis noch ein paar Wochen Physiotherapie über sich ergehen lassen. Abu Mahmud, wie seine Freunde den 45-Jährigen nennen, wird wieder laufen können. Dass er diesmal noch Glück gehabt hat, schiebt er der Tatsache zu, dass zwei seiner Brüder "Schahidim" sind, "Märtyrer", die im Kampf gegen die israelische Besatzung gestorben sind. Ihr Einsatz für den Widerstand habe seine Angreifer gnädig gestimmt.
Die gesamte Großfamilie Dour gehört zur Fatah, und Ramis ist sichtbar stolz darauf. Im Wohnzimmer seines Vaters, bei dem er zusammen mit seiner Familie seit dem Überfall wohnt, hängt ein fast lebensgroßer Jassir Arafat. Das Bild stammt aus den frühen Jahren des verstorbenen PLO-Chefs und zeigt ihn ohne sein typisches Kopftuch. Neben ihm hängen die Bilder der beiden Brüder, von denen einer ein Gewehr in der Hand hält.
Ramis hatte einen Obst- und Gemüseladen, bis ihn Mitte letzten Jahres ein Hamas-Polizist nach der Lizenz fragte. Da war es aus mit seinem Geschäft, denn die der Fatah verbundene Familie hat keine Chance, eine Genehmigung zu bekommen, solange die Hamas an der Macht ist. Zwei seiner Brüder helfen dem arbeitslosen Familienvater.
"Die Hamas hat den Krieg benutzt, um alte Rechnungen zu begleichen", sagt er. Ramis kennt sechs Fatah-Aktivisten, die während des Krieges erschossen wurden. Mindestens 19 Männer wurden außerdem wegen angeblicher Kollaboration mit Israel getötet. "Wenn es die Hamas auf jemanden abgesehen hat, ist er dran." Wer sich offen gegen die Hamas äußert, riskiert Schüsse ins Knie.
Ramis passierte es am 1. Januar um 11 Uhr vormittags. Vier Maskierte überfielen ihn, als er auf dem Markt Einkäufe tätigen wollte. "Die Männer zogen mich von der Straße weg, fesselten mich und legten mir eine Augenbinde um." Ramis ist sicher, dass der Vorfall von anderen Leuten beobachtet wurde, die zu ängstlich waren, um einzugreifen. "Sie schossen mir zwei Kugeln ins Knie und warnten mich: Du redest zu viel über die Hamas. Tu es nicht wieder!"
Fausi Barhum, einer der Sprecher der Hamas, war es, den Ramis während einer Beerdigung öffentlich kritisiert hatte. Dabei ging es um Barhums Warnung an Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Dieser solle nicht denken, er könne auf einem Panzer der israelischen Armee nach Gaza zurückkommen. Ramis Kommentar zu Barhums Äußerung war lediglich, dass ein Krieg nicht die rechte Zeit sei, um den innerpalästinensischen Konflikt anzustacheln.
Hinter verschlossenen Türen spricht der Verwundete gern viel deutlicher über seine politischen Gegner. Er sei enttäuscht darüber, dass die Israelis abgezogen sind und der Gazastreifen wieder von den Islamisten beherrscht wird. Viele hätten sich gewünscht, dass "die Armee im Süden anfängt und zuerst Rafah von der Hamas säubert, damit die Leute von [Fatah-Sicherheitschef] Mohammed Dahlan dort wieder die Kontrolle übernehmen". Schritt für Schritt hätte die Fatah mit Israels Hilfe den Gazastreifen zurückerobern sollen.
Die Unterstellung von Hamas-Sprecher Barhum war also nicht aus der Luft gegriffen. Im Westjordanland äußerte sich Anfang dieser Woche Jassir Abed Rabbo, ehemals Informationsminister und heute Mitglied im PLO-Exekutivrat, bedauernd über die Tatsache, dass Israel den Krieg beendet habe, noch bevor die Hamas geschlagen sei. Der Krieg steht für eine verpasste Chance, die Machtverhältnisse im Gazastreifen wieder umzukehren. Kaum jemand glaubt noch an eine Versöhnung der Fraktionen. Und Wahlen sind nur dann möglich, wenn die Hamas ihnen zustimmt.
Ein bruchloser Wechsel zwischen israelischen Soldaten und den von der Fatah kommandierten Sicherheitstruppen wäre indes kaum von der Bevölkerung akzeptiert worden. Die Fatah wird von vielen Palästinensern ohnehin schon als mit der Besatzungsmacht kollaborierend betrachtet, seit die Al-Aksa-Brigaden die Waffen niederlegten. Außerdem kooperieren die Sicherheitsdienste Israels und der Fatah bei der Verfolgung der Islamisten. Ginge es nach Ramis, müsse das Volk gar nicht erst befragt werden. "Hört mir auf mit Demokratie!", schimpft er. "Man sieht ja, was dabei herauskommt."
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