■ Nach dem Erdrutschsieg der amerikanischen Demokraten: Wie weit wird Clintons Vision tragen?
Es war vielleicht das erste Mal in seiner Amtszeit, daß Dan Quayle etwas Vernünftiges gesagt hat. Wenn Bill Clinton so regiere, wie er seinen Wahlkampf führe, dann sei das Land gut aufgehoben. An Euphorie und Elan wird es dem neuen Präsidenten und seinem Kabinett nicht mangeln. Trotzdem muß man jetzt schon fragen, wie lange Bill Clinton an seinem neuen Amt Spaß haben wird.
Bill Clinton wird ein Land regieren, das sich in einem Auflösungsprozeß befindet. Drei der wichtigsten Klammern, die bislang die nationale Identität der Amerikaner zusammengehalten haben, sind zerfallen: die äußere Bedrohung durch das Feindbild des Kommunismus ist verschwunden; die Theorie des „Schmelztiegels“ hat sich als Illusion erwiesen. Vor allem aber verblaßt jener Glaubensgrundsatz, der bislang trotz enormer Gegensätze zwischen Arm und Reich als gesellschaftliches Bindemittel fungierte: Aus einem Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ ist ein Land des unbegrenzten Verteilungskampfes, aus dem „Streben nach Glück“ des Einzelnen der Defensivkampf gegen den sozialen Abstieg und den oft so kleinen Schritt in die Armut geworden. Dieser Bewußtseinswandel ist, zusammen mit der Staatsverschuldung, die einschneidendste Hinterlassenschaft der Reagan-Bush-Ära. Sie hat den politischen Spielraum für eine progressive Politik zugunsten der sozial Schwachen enorm eingeschränkt und zu einem Rechtsruck geführt – einem Rechtsruck, der vor allem von der Angst weißer Männer um ihren ökonomischen und sozialen Status getragen wird. Gezielt hat die Bush-Administration diese Angst geschürt. Man erinnere sich nur an Bushs Wahlkampf 1988, dessen Rassismus zwar latent, dennoch aber überall spürbar war.
Bill Clinton hat dem Rechtsruck Rechnung getragen und einen Wahlkampf geführt, der auf diese verängstigten Wählerschichten zugeschnitten war. Kernpunkte: das Versprechen ökonomischer Genesung für der Mittelklasse, versetzt mit einer Prise „law-and- order“, harsche Töne gegen Sozialhilfeempfänger und eine Distanzierung zur afroamerikanischen Community. Kurzum: Clinton versprach, ein ganz anderer, ein neuer Demokrat zu sein.
Trotzdem ist dies nicht nur ein Sieg opportunistischer Programmatik. Wenn es denn stimmt, daß die Amerikaner in ihrem Präsidenten einen Visionär suchen, einen, der ihre Träume artikulieren kann, haben sie 1992 ein eindrucksvolles Kontrastprogramm aufgelegt. Gewonnen hat ein Südstaatler aus ärmlichen Verhältnissen gegen einen reichen Sprößling aus einer Politikerfamilie von der Ostküste; ein Baby-Boomer mit Partnerschaftsehe samt dazugehörigen Krisen gegen einen Familienpatriarchen. Gewonnen hat – trotz der so widerwärtigen Machokultur in amerikanischen Präsidentschaftsrennen – der Vietnamkriegs- Gegner, der nie eine Uniform getragen hat, gegen den „Helden“ aus dem Zweiten Weltkrieg und Sieger der „Operation Desert Storm“.
Gewonnen hat einer, der eine Vision hat, gegen einen, der am Ende nichts mehr zu sagen wußte. Bill Clinton ist vielleicht der letzte Präsident, der wenigstens die Illusion eines Konsenses anbieten kann: ein gemeinsamer Kraft- und Willensakt von Gesellschaft und Staat, um das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine zu bringen. Darin liegt das Revolutionäre dieses Wahlsiegs: Bill Clinton hat den ehernen Grundsatz der Reagan-Bush-Ära umgeworfen, wonach der Staat der potentielle Feind des Volkes ist – und sie haben ihn trotzdem gewählt.
Die Lebensdauer der Illusion des Konsenses hängt davon ab, ob und wie schnell der neue Präsident wirtschaftliche Erfolge vorweisen kann, wann er das erste Mal die Steuern für die mittleren Einkommensschichten erhöht und wann die nächste Stadtrevolte ausbricht. Als Stifter einer neuen, lagerübergreifenden amerikanischen „Identität“ wird Clinton scheitern. Doch kann und muß er auf dem Feld der Innenpolitik sehr schnell und sehr deutlich Zeichen einer Klimaveränderung setzen. Er kann und muß, soweit möglich, die Folgen des Rechtsrucks korrigieren. Ein demokratischer Kongreß und ein demokratischer Präsident können das Recht auf Abtreibungsfreiheit endlich gesetzlich verankern, den Verkauf von Schußwaffen einschränken, umweltpolitische Richtlinien und Arbeitsschutzbedingungen wieder verschärfen. Dies waren unter der Bush-Administration unüberwindbare Hürden. Auch wenn diverse Lobbygruppen aufschreien werden – für eine Clinton-Administration wären es kleine, aber konsequente Schritte. An ihnen wird er sich als erstes messen lassen müssen. Andrea Böhm, Washington
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