Nach dem EM-Aus der Deutschen: Vercoacht und zugenäht!
Nach der EM-Halbfinal-Niederlage stellt sich Joachim Löw vor seine Mannschaft – und muss sich für seine Aufstellung erklären. Er habe das Zentrum stärken wollen, so Löw.
WARSCHAU taz | Der Bundestrainer hatte sich schnell wieder gefangen. „Es gibt hier keinen Grund, irgendwas anzuzweifeln“, sagte er nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien. „Die Mannschaft ist jung und entwicklungsfähig, wir werden auch diese Niederlage verarbeiten.“ Es dürfte allerdings einige Zeit dauern, bis dieses 1:2 wirklich verdaut ist, denn das DFB-Team wollte mehr – die Europameisterschaft. Die Mannschaft ist zwar bei vier Turnieren vier Mal hintereinander ins Semifinale gekommen, doch einen Titel gewonnen hat sie nicht.
Es ist nicht schwer, sich auszumalen, dass der Bundes-Jogi in den Boulevardzeitungen nun zum Vize-Jogi mutieren dürfte. Er hat zwar für Kontinuität auf hohem Niveau gesorgt, aber nicht für den finalen Rausch. Zudem stehen jetzt nicht mehr nur sieben nicht gewonnene Spiele bei EM oder WM gegen die Italiener zu Buche, sondern acht. Der Angstgegner hat wieder zugeschlagen. Und wie. Gegen die Azzurri scheint nichts zu gehen.
Dabei wollte Löw den Gegner erneut mit einem taktischen Kniff überraschen. Mario Gomez rückte für Miroslav Klose wieder ins Sturmzentrum. Das offensive Mittelfeld bestand aus Lukas Podolski, Toni Kroos und Mesut Özil. Doch was hatte sich Löw nur dabei gedacht?
Es sei darum gegangen, „das Zentrum zu stärken“, erklärte er hernach knapp, denn da vermutete er zu Recht die Stärken der Italiener. Die Mittelfeld-Raute um Andrea Pirlo, Riccardo Montolivo, Daniele de Rossi und Claudio Marchisio überzeugt wie keine andere Formation bei diesem Turnier, vor allem Juve-Profi Andrea Pirlo blüht auf seine alten Tage – er ist Jahrgang 1979 – noch einmal auf.
Warum Löw freilich auf die so spielfreudigen und kombinationsstarken Marco Reus und Klose verzichtete, blieb sein Geheimnis. Zur Aufklärung wollte er nach dem Spiel nicht wirklich beitragen. „Im Nachhinein ist vieles einfach“, sagte er etwas kryptisch.
Nur Prandelli lobt Löw
Doch es schien, als überschätze er sich in seinen Gestaltungswillen. Das Leitmotiv, jeder in Angriff, Mittelfeld oder Abwehr sei gleichwertig zu ersetzen, stimmt eben nur bedingt. Die erste Elf hatte sich nach dem Spiel gegen Griechenland offensichtlich gefunden. Ein erneuter chirurgischer Eingriff bekam dem Team nicht gut. Man wird Löw diesen Coaching-Fehler ankreiden. Nur Cesare Prandelli, der italienische Coach, präsentierte sich als großmütiger und generöser Sieger. Er hielt Löws Wechsel für „sehr durchdacht“. Er stand ziemlich allein da mit dieser Meinung.
Nur die ersten 20 Minuten hielt das DFB-Team mit, hätte in dieser Phase mit eigenen Chancen in Führung gehen können. Doch dann begann die Show des Mario Balotelli: Antonio Cassano tanzte auf dem Flügel Mats Hummels und Jerome Boateng aus. Flanke. Kopfball Balotelli. 1:0. Das Entfant terrible hatte getroffen. Es schien sich der Satz eines italienischen Kollegen zu bewahrheiten: An guten Tagen spielt die Squadra Azzurra mit Balotelli zu zwölft, an schlechten zu zehnt.
Es war ein guter Tag für Balotelli, denn er besorgte mit einem krachenden Schuss auch das 2:0. Die deutsche Innenverteidigung war nach einer Standardsituation unpässlich, nur Philipp Lahm war verteidigungsbereit, allerdings auch nur bedingt. Balotelli ließ ihn stehen wie Usain Bolt einen Sprinter der SG Wattenscheid. Lahm eierte ihm hilflos hinterher.
„Ich sitze mit offenen Augen vor ihnen, aber ich träume immer noch“, sagte Prandelli. „Das war allerdings nur der Anfang eines Traumes.“ Jetzt wollen sie die angeblich favorisierten Spanier im Finale schlagen. Das war auch das große Ziel der deutschen Mannschaft. Sie raffte sich in Halbzeit zwei wenigstens noch einmal auf. Löw hatte nun endlich auch Reus und Klose gebracht, was zumindest für eine Viertelstunde Schwung brachte. Danach waren es wieder die Italiener, die dem 3:0 näher waren als die Deutschen dem 2:1. Allein Marchisio hätte erhöhen müssen.
Sechs Kilometer weniger gelaufen
Dass die DFB-Elf in der Nachspielzeit doch noch durch einen von Özil verwandelten Handelfmeter zum Anschlusstreffer kam – geschenkt. Was bleibt, ist die zum Teil krasse Überlegenheit eines italienischen Teams, das insgesamt sechs Kilometer mehr rannte als das deutsche. Vor allem Marchisio (über 12 km) verdiente sich den Haile-Gebrselassie-Gedächtnispreis.
Zum ersten Mal im Turnierverlauf war die DFB-Elf in Rückstand geraten, und prompt geriet sie aus der Fassung. „Wir haben den Faden erst mal nicht wiedergefunden“, sagte Löw, „wir sind in Unordnung geraten“. Es wäre wichtig gewesen, selbst das erste Tor zu machen, aber wie dem auch sei: „Ich kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen.“ Er versuchte, die Niederlage in einen größeren Gesamtzusammenhang zu stellen. Auf diese Weise konnte er dem Abend auch etwas Positives abgewinnen. Man habe schließlich 15 Pflichtsiege in Serie verbucht und „ein gutes Turnier“ gespielt, postulierte er.
Mats Hummels wollte das ein bisschen anders sehen. „Eine gute EM wäre es gewesen, wenn wir heute gewonnen hätten.“ Für die „junge Mannschaft“ (Löw) mit den „jungen Spielern“ (Löw) sei aber nichts verloren. Es werden neue Turniere kommen, auch für Bastian Schweinsteiger. „Wenn jeder seinen Weg weitergeht, wird die Qualität der Mannschaft beim nächsten Turnier noch besser sein“, sagte er. Es ist eine vage Hoffnung.
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