Nach dem „Danni“ und vor der Autobahn: Ein Protestival auf dem Land
Eine Wanderung durch Mittelhessen bringt den Kontakt zu Einheimischen. Von Politikverdrossenen über aktivistische Feministen.
„Nein, über Politik möchte ich nicht reden, da rege ich mich nur auf!“, ruft der Mann auf dem Fahrrad und lacht. Dann fährt er weiter. Ich bin in Homberg (Ohm), einer 7.500-Einwohner-Stadt in Mittelhessen. Es ist Montag, acht Uhr morgens. In drei Wochen ist Landtagswahl.
„Das mit dem Dannenröder Forst und dem Autobahnbau war einschneidend und hat hier alles auseinandergerissen“, sagt Herr K., der mit seinem Hund neben mir stehen geblieben ist. „Viele Familiengefüge sind kaputt. Viel mehr noch als nach den Coronamaßnahmen. Die Eskalation hätte verhindert werden können. Aber es wurde ja schon vor Ewigkeiten über die Köpfe der Leute hinweg entschieden. Es hätte gute Alternativen gegeben.“
Der 50-Jährige schaut mich eindringlich an: „Es gibt überhaupt keine klar kommunizierte Trennschärfe mehr zwischen Landes- und Bundespolitik. Man hat das Gefühl, dass die Landtagswahl nur eine kleine Bundestagswahl ist. Dabei gibt es hier in der Gegend viele Katastrophen. Bald gibt es keine Ärzte mehr, alle gehen in Rente. Der Fachkräftemangel lähmt die Wirtschaft. Die steigenden Zinsen bereiten den Leuten schlaflose Nächte, weil sie nicht wissen, wie das mit der Finanzierung ihrer Kredite wird. Aber ist das Landespolitik? Wenn vernünftige Sachen geplant werden, gibt es keine Diskurse, sondern Parteipolitik. Alle sind ermüdet. Und eine ständig präsente Bundesministerin will jetzt Ministerpräsidentin werden?! Ich werde zum ersten Mal den Stimmzettel ungültig machen. Nicht aus Verdruss, nein, ich bin einfach nur ratlos.“
Ich verlasse Homberg und laufe über kahle Hügelkuppen. Kalter Wind geht über die Felder. Vor den grauen Septemberhimmel stürzen dunkle Wolkenfetzen. Milane und Krähen tragen Auseinandersetzungen aus. Windräder und Hochspannungsleitungen verzerren den Anblick der eigentlich wunderschönen Landschaft.
„Kann man hier irgendwo frühstücken?“, frage ich eine Frau, die aus einem Postauto steigt. „Da müssen Sie nach Homberg. In den Dörfern gibt es nichts. Obwohl, vielleicht kriegen Sie bei den Waldbewohnern was.“ Ich laufe ins Dorf. Dannenrod hat kaum 200 Einwohner. Wie in Homberg strahlen die Fachwerkhäuser etwas Romantisches aus. Nach 200 Metern komme ich zu einem Hof. Hinter dem mehrgeschossigen Wohnhaus stehen circa acht Bau- und Wohnwagen, ähnlich den Wagenburgen in Berlin. Härter könnte der Kontrast nicht sein. Ganz in Schwarz gekleidet tritt M., 24, aus dem Gebäude.
2019
„Ich mache die meiste Zeit hier Veranstaltungen. Hier ist so ein Hausprojekt übrig geblieben. Schon während der Besetzung 2019 haben die Leute, denen das gehört, das Haus zur Verfügung gestellt, und es wurde Miete gezahlt von NGOs. Wir versuchen jetzt irgendwie die Stellung zu halten und an der Thematik zu arbeiten, dass hier die Besetzung war, um uns gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlage zu wehren. Ansonsten studiere ich.“
Gemeinsam laufen wir aus dem Dorf zu einer großen Wiese, auf der improvisierte Bühnen stehen.
„Wir haben grad ein feministisches Protestival gemacht, also, wir wollten vermischen: ein Protestcamp mit gleichzeitig Kultur und eben Spaß. Es gab viele Workshops, dekolonialer Feminismus zum Beispiel oder feministische Verkehrswende, es gab auch einen Soundjourney.“
Dumme Versprechungen
Ich erkundige mich nach der Interaktion mit den Einheimischen.
„Es gibt solche und solche. Manche, die kommen her, die sind dabei, schauen es sich an und finden uns toll. Einer der Dorfbewohner hat geholfen, den Rasen zu mähen, einer hilft bei den Bierbänken. Aber dann gibt es manche mit rechter Gesinnung, also die sich dann hinstellen und unsere Infrastruktur zerstören wollen.“ M. berichtet von vier Personen, die mit einem Hammer die Stromverteilung zerstören wollten. „Das war richtig schlimm. Aber wir haben Support von der Bewegung bekommen. Das steht man gemeinsam durch. Umso wichtiger ist es, Präsenz zu zeigen. Was die Autobahn betrifft, gab es dumme Versprechungen. Man könne CO2 sparen, mehr Jobs schaffen, schnellere Verbindungen, weniger Lärm. Aber es gibt nur Jobs im Logistikzentrum, wo sie ausgebeutet werden. Am Protest führt kein Weg vorbei. Das System ist so unerträglich. Was kann ich denn sonst machen? Einen normalen Job? Irgendwelches Geld verdienen? Eine heteronormative Familie? Dann wäre ich auch todunglücklich. Ich habe keine Lust, die Leute, denen es scheiße geht, alleinzulassen.“
Buchen, Eichen, Brennnesseln, Nacktschnecken, Spechte. Zehn Meter neben der Wiese beginnt der Dannenröder Wald. Dort ist es windstill. Das dichte Grün ist beglückend, die Stille erholsam. Ich laufe auf einem abschüssigen Weg in den „Danni“. Eine Weile suche ich nach Überresten der Baumhäuser, finde aber nur einen bemalten Tierschädel. Dann ein Absperrband: „Betreten verboten – Lebensgefahr – Holzfällung“. Ich gehe trotzdem weiter. Kurz darauf komme ich zur nachlässig abgesperrten Autobahnbaustelle. Lastwagen donnern vorbei und hüllen die monströse Schneise, die in den Wald geschlagen wurde, in Staubwolken. Die provisorische Straße, die die Laster benutzen und auf der auch ich jetzt laufe, ist schmal. Wenn Fahrzeuge kommen, muss ich ausweichen. Einen Kilometer bin ich auf der unfertigen A49 unterwegs, Security sehe ich nicht. An einer Brücke frage ich einen Bauarbeiter, wie ich zurück in den Wald komme – er deutet wortlos auf die hohen Zäune. Ich klettere zurück in den Wald. Plötzlich kommt ein Transporter angerast, stoppt direkt neben mir, der Fahrer mustert mich abschätzig, wendet und fährt weg.
„Für mich als Landwirt ist es schade, dass Flächen weggehen durch die Autobahn.“ Nach zwei Stunden Fußmarsch stehe ich in dem Dorf Niederklein. Herr Sch., 64, schraubt an seiner Landmaschine und erzählt bereitwillig. „Ich vermiete ja auch Zimmer, von daher ist es positiv, weil Industrie sind ein Haufen Fremdfirmen, die Zimmer brauchen. Also ich bin da mit ’nem zwiespältigen Gefühl. Einerseits ist es positiv, andererseits auch nicht. Mir sind zwei Hektar verloren gegangen, die ich für die Autobahn abgegeben habe, aber nicht verkauft, sondern die ich dann im Zuge der Flurbereinigung zurückbekommen werde. Wir hatten noch vor 15 Jahren Frisöre, Edeka, Schuster, Tankstelle. Wir hatten zwei Bankfilialen und fünf Kneipen! Wir haben jetzt nichts mehr. Ich bin noch mobil, aber alte Leute, die können sich nicht mal ein leckeres Päckchen Joghurt oder Geld abholen. Dass die Orte wiederbelebt werden, das erwarte ich von der Landespolitik! Ja, ich gehe zur Wahl, denn wenn man nicht wählt, unterstützt man die, die man nicht will. Aber wen ich wähle? Ich weiß, wen ich als Bürgermeister wähle, aber welche Partei ich wähle, das weiß ich nicht. Ich informiere mich über die Programme oder den Wahl-O-Mat. Ich werde nicht rechtsradikal wählen, nicht extrem, nicht Protest. Ich bin sehr aktiv. Wenn ich irgendwelche Missstände sehe, dann prangere ich sie öffentlich an. Weswegen ich auch schon körperliche Repressalien erleiden musste. Mich hat man hier schon tagsüber zusammengeschlagen.“
Eine andere Geschichte
Sch. berichtet, dass er das unehrenhafte und unwaidmännische Verhalten eines Jägers kritisiert und öffentlich gemacht habe. Dieser habe drei Schläger beauftragt, die säßen nun in U-Haft. „Aber das ist eine andere Geschichte“, sagt er.
Dutzende Wettbüros, Spielhallen, Shishabars und Billigshops säumen die Einfallstraße nach Stadtallendorf, einer Arbeiterstadt mit Bundeswehrstandort. Das ist der nächste, sehr harte Kontrast – zum Wald, zu den idyllischen, teils biederen Dörfern, zur Wagenburg der Aktivisten, zum pittoresken Homberg, zur Autobahn.
„Es ist definitiv ’ne Erleichterung für uns. Weil selbst …, ich sag mal, klar, im Prinzip würd’s auch ohne Autobahn gehen, wenn’s mal hart auf hart kommt, weil wir’s ja jahrelang so gewohnt sind. Aber wenn ich so darüber nachdenke – wir haben auch oft in Gießen, Frankfurt oder Kassel zu tun, und jedes Mal die Fahrt dorthin zwischen den Dörfern ist dann doch lästig und anstrengend.“ Hinter dem Bahnhof treffe ich den 30-jährigen O., einen gebürtigen Stadtallendorfer mit türkischstämmigen Eltern.
Jeder seine Meinung
„Zudem wird’s auch den Leuten, ich sag mal, die außerhalb wohnen, das alles erleichtern. Weil wir hier viel Gastronomie haben, viele Bars und Clubs. Letztendlich hat ja jeder seine eigene Meinung. Ich meine, das sind ja Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen. Na klar, es gab viel Negatives von vielen hier. Es hat auch ’ne Zeit lang für viel Unruhe gesorgt hier in der Stadt. Ich meine, die Polizei war ja regelmäßig unterwegs, und das hat zu vielen Staus geführt. Aber man muss sich auch für seine Meinung einsetzen können. Ich lebe jetzt schon seit 30 Jahren hier und bin relativ zufrieden.“
Vom Bahnsteig in Stadtallendorf aus beobachte ich die langen Gräser neben den Gleisen, die im Wind eines vorbeirasenden Zugs schwanken. Hinter mir liegt ein Tag voller schwer vereinbarer Gegensätze und Widersprüche, voller Landschaften und Stimmen.
Hessen ist abwechslungsreich, auch in seiner Mitte, und die Strecke rund um Homberg ist ein eindrucksvoller Wanderweg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid