Nach dem Attentat in Oslo: Das 9/11 Norwegens
24-Stunden Liveberichterstattung im Fernsehen, ein bewegender Gedenkgottesdienst und von Polizei umstellte Regierungsgebäude: Das Ende einer Epoche?
OSLO taz | Oslo am späten Samstagabend: Junge Norwegerinnen und Norweger legen Blumen auf die Stufen des großen Doms, zünden Kerzen an. Eine Gedenkstätte entsteht. All das bringt die Erinnerungen zurück an einen anderen historischen Moment der tiefen Trauer, den Tag, an dem der beliebte König Olav starb, 1991.
Was diese beiden Momente eng zusammenrückt, ist die tiefe Gewissheit, dass eine Epoche zu Ende gegangen ist. Dieses 9/11 Norwegens erschüttert die Gesellschaft in ihren Grundfesten, es ist unklar, in welche Richtung sie sich verändern wird.
Die Kerzen flackern im heftigen Regen, auch das ein Symbol, das die große Sorge vieler Norweger widerspiegelt. Ganz normale Bewohner wie auch politische Kommentatoren teilen die große Sorge, dass die offene, harmonische Gesellschaft und letztlich das gesamte politische System auf eine harte Probe gestellt sein wird. In der Nähe des Doms spielen sich für norwegische Verhältnisse surrealistische Szenen ab: Bewaffnete Polizisten und Militärs bewachen die Ruinen der Regierungsgebäude, den total zerstörten Regierungssitz des Premierministers.
Der Doppelanschlag von Norwegen weckt Erinnerungen an das Bombenattentat auf ein US-Regierungsgebäude in Oklahoma City vor 16 Jahren, bei dem 168 Menschen getötet wurden. Der Täter hatte ebenfalls einen rechtsradikalen Hintergrund, zur Herstellung des Sprengsatzes besorgte er sich größere Mengen Düngemittel. Bei dem Anschlag am 19. April 1995 war vor dem Alfred-P.-Murrah-Bundesgebäude ein Kleinlastwagen mit mehr als zwei Tonnen einer hochexplosiven Mischung aus Dieselkraftstoff und Ammoniumnitrat explodiert. Die Detonation riss 168 Menschen in den Tod, darunter viele Kinder. Zudem gab es mehr als 500 Verletzte. Zwei Tage später fasste die Polizei den Attentäter: Es handelte sich um Timothy McVeigh, einen 27 Jahre alten Golfkriegsveteranen. Als Motiv gab er Hass auf die Regierung an.
Auch das Parlamentsgebäude wird weiterhin bewacht. Weder die Besucher noch die Ortsansässigen sind daran gewöhnt, bewaffnete Sicherheitskräfte zu sehen. Nur wenn ein amerikanischer Präsident mal einen Nobel-Preis verliehen bekommt, sieht man eine solche Polizeipräsenz.
Lockere Sicherheitsbestimmungen
Bisher war das eine Art Alleinstellungsmerkmal der norwegischen Gesellschaft, auf das sie stolz war. Ganz normale Menschen konnten sich direkt vor den Regierungsgebäuden versammeln. Autos konnten ganz in der Nähe geparkt werden. Die Sicherheitsbestimmungen sind grundsätzlich nicht sehr streng. Und sie waren es eben auch am Freitagabend nicht.
Der Bombenanschlag in Oslo und das Massaker auf der Ferieninsel Utøya geschahen, als viele Norweger bereits ihren Urlaub begonnen hatten, entsprechend waren die Straßen und Einkaufsläden nicht so voll wie gewöhnlich.
In den Gesichtern der Menschen, die an den kleinen Kaffeetischen in den örtlichen Supermärkten sitzen, kann man die Sorgen lesen, die Verzweiflung und all die anderen Fragen, die sich die Menschen über die nationale Tragödie stellen. Wie konnte ein einzelner Mann Hunderte von Menschen auf dieser Insel angreifen? Welche Ideen treiben ihn an? Und warum ist so etwas in Norwegen passiert? Man mag das etwas befremdlich finden, aber bis zu diesem Freitag waren viele Norweger davon überzeugt, dass ihr Land friedliebender ist als andere Länder.
Wenige Stunden nach dem Bombenattentat wurde in Norwegen von ganz normalen Nachbarn wie auch von Experten gemutmaßt, dass vielleicht Islamisten hinter dem Anschlag stecken. Und dass Norwegen jetzt vielleicht auch den Preis dafür bezahlen muss, dass es sich militärisch in Libyen und Afghanistan engagiert und immer wieder auch im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina.
Kein islamistischer Hintergrund
Jetzt ist es fast eine Erleichterung, dass der Anschlag keinen islamistischen Hintergrund hat. Und die Bedrohung durch weitere Attentate, wie sie in London oder den Vereinigten Staaten vorherrscht, eben nicht alltäglich wird. Diese Erleichterung wird allerdings dadurch zerstört, dass das Massaker in Utøya die größte Tragödie für die Norweger bedeutet, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. Und noch nie hat ein Norweger ein solches Verbrechen begangen.
Die meisten Norweger wurden an diesem Wochenende durch die Berichterstattung des traditionellen Staatsfernsehen begleitet, informiert, aber auch getröstet. In Live-Sendungen wurde die wirklich herausragende Führungsstärke des norwegischen Premiers Jens Stoltenberg direkt in die Wohnzimmer übertragen, der, umringt von geschockten Parteimitgliedern, die Ruinen besichtigte. Übertragen wurde auch der Gedenkgottesdienst, bei dem die königliche Familie gemeinsam mit dem Volk um die Toten weinte.
Andere Teile der Live-Berichterstattung erinnerten indes an pure Horrorfilme: Bilder junger Menschen, die versuchten, dem Kugelhagel zu entkommen, Augenzeugenberichte, schreiende, blutende Menschen. "Diese Live-Berichterstattung ist ein wichtiger Bestandteil unseres 9/11", flüsterte ein Mann, der wie ich in einem Vorort von Oslo lebt.
Die Tragödie erreichte jeden Teil Norwegens: Jedes junge Opfer hat irgendwelche Freunde und Verwandten in kleinen Städten oder in den ländlichen Gegenden. In der 24-Stunden-Berichterstattung waren viele weinende Menschen zu sehen, die weit entfernt von Oslo leben. Eine Welle der Solidarität erfasst das Land, Parlamentarier versuchen ihre örtlichen Jugendorganisationen zu trösten und Tränen zu trocknen.
Zu Beginn der neuen Nachrichtenwoche macht sich eine weitere Sorge breit: Viele Norweger fürchten sich vor dem, was ans Tageslicht kommt über den Täter und warum er nicht überwacht wurde, und überhaupt wie tief der braune Sumpf ist, von dem die Norweger bisher dachten, es gäbe ihn nicht in ihrem Land. Und der seit diesem Wochenende ein Gesicht hat.
Per Andres Hoel ist Parlamentskorrespondent der Hauptstadtzeitung Vaart Land
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Autounfälle
Das Tötungsprivileg