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Nach dem AmoklaufDas Grauen in der kleinen Stadt

Nach dem Schulmassaker im idyllischen Winnenden rätseln Experten immer noch über die Ursachen. Vielleicht war ja gerade diese Idylle das Problem. Ein Essay.

Ein Trauerflor in Winnenden: wenn die angeblich "heile Welt" sich als gar nicht so heil entpuppt. Bild: ap

Die junge Frau aus Winnenden konnte es nicht fassen: Es sei doch in ihrer Heimat immer so schön gewesen. Wie habe so etwas gerade hier passieren können? Sie verstehe die Welt nicht mehr. Das sagte sie in eine Fernsehkamera, dann fing sie bitterlich an zu weinen und drehte sich weg.

Auch eine Woche nach dem Amoklauf in der schwäbischen Provinz dauert die Diskussion über die Ursachen und Folgen der blutigen Tat an - und auffällig ist schon, dass ein Aspekt kaum, und wenn doch, dann nur schief diskutiert wird: dass die Schulmassaker der vergangenen Jahre meist in durchaus nicht armen Mittelstädten stattfanden.

Gibt es da einen Zusammenhang?

Vielleicht ja. Die jungen Männer mit ihren Handfeuerwaffen lebten in einem Milieu, das einen höheren Sozialdruck ausübt, als er etwa in Großstädten zu finden ist. Wo sind in solchen Städtchen oder Städten die Freiräume für junge Männer in oder kurz nach der Pubertät? Wohin können sie mit all ihrer Wut und ihrem Frust, der sich fast zwangsläufig in diesem Lebensalter einstellt?

In Großstädten sind diese Räume eher zu finden - seien es Fußballstadien, Death-Metal-Konzerte oder gar Antifa-Gruppen, die als Ventil wirken können. Während auf dem Dorf manches an Aggressionen durch die Nähe und Überwachung der Nachbarschaft aufgefangen wird, ist die Anonymität in kleineren Städten gerade so groß, dass dieser Riegel nicht mehr hält. Das heißt, es fehlt die Wärme des Dorfes, ohne die Freiheit der Großstadt zu gewinnen.

Ein Element der Erklärung

Die jungen Schul-Amokläufer verstanden ihre Taten immer auch als Ausbruchversuche aus einer scheinbaren Idylle, die sie als unterdrückend empfanden. Das mag irre sein. Aber tatsächlich ist die Intoleranz in Kleinstädten in der Regel höher als in Großstädten, wo so viele Verrückte rumlaufen, dass es schon keinen mehr interessiert. Natürlich ist dies keine Entschuldigung für eine solche Bluttat. Es könnte jedoch ein Element eines Erklärungsmusters sein, weshalb der Leidensdruck für junge Männer gerade in solchen Kleinstädten so hoch erscheint. Die Schul-Amokläufer litten offenbar auch darunter, dass es in ihrer kleinen Stadt keine Chance der Buntheit und Verrücktheit gab.

Apropos: Psychotherapeutische Behandlungen von gefährdeten Jugendlichen sind - was denken die Nachbarn? - in solchen Städtchen sowieso verpönt, was im aktuellen Fall Winnenden angesichts des Verhaltens der Eltern von Tim K. ebenso zu beobachten ist. Ihr Sohn sei nicht in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, behaupten sie. Die Ärzte von Tim K. sagen das Gegenteil.

In solch einem Umfeld gibt es praktisch nur eine Szene, eine Peer-Group, der man sich anschließen kann - oder eben nicht. Die jungen Schul-Amokläufer aus den Kleinstädten waren, so im amerikanischen Littleton (40.000 Einwohner), Jonesboro (60.000) und Springfield (60.000), im finnischen Tuusula (37.000), in Emsdetten (36.000), in Winnenden (28.000) und mit Einschränkungen in Erfurt, Einzelgänger, die sich als Rebellen verstanden. Wie aber ist Rebellentum möglich ohne die schützende Solidarität eines Dorfes oder die Freiheit einer Großstadt?

In einer Kleinstadt ist somit die Gefahr größer, dass verschlossene, aggressive Jugendliche oder junge Männer keinen Freundeskreis finden, der zu ihnen passt und sie schützt - und andere Freundeskreise nicht vorhanden sind. Wer zuletzt von der erschütternden Teilnahmslosigkeit, ja von der Kälte erzählt bekam, mit der Mitschülerinnen und Mitschüler von Tim K. ihn behandelten, weil er eben nicht zu ihnen gehörte, kann nachvollziehen, wie diese Einsamkeit in Aggression umschlägt. Oder die bereits vorhandene noch steigern kann. In Großstädten kann man für seine noch so absurden Vorlieben oder Spleens eine Gruppe finden, wo man die Wärme und das Verständnis findet, das einem außerhalb fehlt. An Schulen in Kleinstädten ist das dagegen schwer: Entweder man ist in der In-Group oder man ist draußen. Etwas anderes gibt es nicht. Und das tut, gerade in diesem Lebensalter der Abnabelung von den Eltern und der Orientierung an Gleichaltrigen, besonders weh.

Zugleich fehlt es in diesen scheinbar idyllischen Kleinstädten an Spektakeln oder Abenteuerräumen, die einen wenn auch vielleicht nur kurzfristigen Ausbruch aus der heilen Welt ermöglichen. Die Reizarmut und Langeweile in einem solchen Milieu können brutal sein. Während Ältere das Kleine, Überschaubare, ja Provinzielle zu lieben gelernt haben und in ihm das Große, Freie und Weltweite erkennen, erscheint gerade jungen Männern ihre kleine Stadt nur als Ort der Enge und Perspektivlosigkeit. Der sensible und hoch gebildete Bestseller-Autor Rüdiger Safranski stellte am Wochenende in einem gelehrten Interview mit dem "Deutschlandfunk" die ketzerische Frage, ob solche Schul-Amokläufe nicht auch ein Phänomen einer jahrzehntelangen Friedenszeit seien, in der die Erfahrung von extremer Gewalt und Aggression, gottlob, nicht mehr möglich ist - aber wohl doch einer Sublimierung bedürfte.

Gewalt ist heute, gerade in der heilen Welt der Kleinstädte, vor allem virtuell. Es ist ja nicht schön, die gelegentliche Brutalität auf den Straßen einer Großstadt zu erleben. Aber sie ist zumindest insofern lehrreich, als sie jegliche Faszination für diese Gewalt ziemlich schnell vertreiben kann. Folglich ist es kein Wunder, dass viele junge Männer ein Ventil für ihre Aggression in der virtuellen Welt der Ballerspiele finden. Hier gibt es keinen Sozialdruck, keine Überwachung durch Nachbarn oder Eltern, keine spießige Intoleranz, keine Ausgrenzung durch eine In-Group und keine Langeweile. Hier finden sie vielmehr einen Quasi-Kameradenkreis von Mitkämpfern im virtuellen Raum. Hier sind Spektakel, Verrücktheit, Buntheit, Reizesfülle und vor allem ein Freiraum für (virtuelle) Aggressivität.

Vielleicht gingen solche jungen Leute wie Tim K. in früheren Jahrhunderten in den Krieg, auf die Walz oder in den Wilden Westen nach Amerika. Wo aber bieten sich ihnen heute in dieser Sattheit existenzielle Erfahrungen, Herausforderungen dieser Art und Chancen des Ausbruchs, wenn schon die Hürden für ein Schuljahr im Ausland immens sind? Es gibt in der heilen Welt der kleinen Städte kein relativierendes Element, das den Blick öffnet. Die kleine Welt vor Ort scheint schrecklicherweise schon die ganze zu sein. Es ist, als wendeten die Schul-Amokläufer die Wut über die eigene Kleinheit und Mittelmäßigkeit gegen die Kleinheit und Mittelmäßigkeit ihrer Städte. Das funktioniert vor allem in einem Lebensalter, das geprägt ist von euphorisierender Selbstüberschätzung einerseits und schmerzhafter Unsicherheit andererseits.

Zu viele Grenzen

Angesichts der Erfahrungsarmut durchschnittlicher Mittelstandsjugendlicher kann all das ziemlich schnell zu Depressionen führen. Und alle Schul-Amokläufer hatten offensichtlich unter ihnen zu leiden. Die Tristesse und Spießigkeit nicht nur deutscher Mittelstädte kann gerade labile junge Männer beengen, ihr Herz einschnüren und zu Zynismus verleiten. Die Coolness herrscht, als Schutzschild gegen Gefühle. Es ist eine Unsicherheit in der Kleinstadt, der die Jungmänner schon fast entwachsen sind, ohne dass sie die große Weite des Lebens schon gewonnen hätten. Ihr ganz normaler Größenwahn stößt in einer solchen heilen Welt an viel zu viele Grenzen, kann nur schwer umgewandelt werden in Kreativität oder Originalität. Und wenn dann auch noch der Schützenverein eine der ganz wenigen Freizeitbeschäftigungen für unsportliche Jungen in der kleinen Stadt darstellt, sollte es nicht verwundern, dass manche schnell Waffennarren werden.

Hinzu kommt schließlich die Verlogenheit eines kleinstädtischen Umfelds, das den jungen Männern gern eintrichtert: Es geht euch doch gut! Es ist doch schön hier! Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Die Gefahr, der Dreck, das Chaos, die Aggression - das ist alles weit weg, dort in der großen Stadt New York, Paris oder Berlin. Aber, verdammt!, wenn es gerade das ist, was manche junge Männer brauchen: Gefahr, Dreck, Chaos und Aggression?

Mehrere Schul-Amokläufer äußerten sich vor ihrer auch autoaggressiven Tat im Internet so, dass sie die Verlogenheit ihres Umfeldes, ihrer scheinbar heilen Welt unglaublich aggressiv mache. Das ist ernst zu nehmen. Und wen packte nach zwei Wochen in einer bayerischen oder niedersächsischen Kleinstadt nicht insgeheim der Wunsch, einen Baseballschläger zu nehmen und auf dem Marktplatz den Stadtbrunnen zu zertrümmern oder die Auslage des Souvenirladens in eine Scherbenlandschaft zu verwandeln? Aber man tut es selbstverständlich trotzdem nicht. Die Schul-Amokläufe sind dagegen auch als irregeleitete Ausbruchversuche aus einem satten Idyll zu verstehen, das aggressiv macht. Es ist eine verlogene heile Welt, die sie verachten, zerstören wollen, ja ins Herz treffen möchten. Das gelingt mit solchen Schul-Amokläufen dann ja auch für eine Weile.

Sicherlich: Die deprimierende Kleinstadt, die Aggression von jungen Männern und der Frust sexueller Abweisung - all das hat es immer gegeben und wird es wohl immer geben. Heute allerdings wird das Ganze noch verstärkt durch eine immer intensivere Nutzung von Medien, die die Möglichkeiten der großen weiten Welt feiern, den Erfolg bei Frauen und im Beruf als etwas Leichtes, Müheloses, ja Notwendiges darstellen und eine Toleranz spiegeln, die man in seiner kleinen Stadt nie und nimmer findet. Diese Diskrepanz zwischen der verlockenden Welt in den Flachbildschirmen und der deprimierenden kleinen Welt von Littleton, Emsdetten oder Winnenden könnte kaum größer sein. Die Amokläufe fanden nicht dort statt, obwohl es Idyllen waren, sondern weil sie es waren.

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8 Kommentare

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  • M
    Micha

    Sie sprechen mir aus dem Herzen. Aus diesem Grund habe ich mit 20 mein badisches Heimatdorf verlassen und bin nach Berlin gezogen. Mit 30 konnte ich mich dann auf eine Stadt im Norden mit 500.000 EinwohnerInnen einlassen. Weniger geht vielleicht mit 70?

  • A
    Annika

    Der beste Artikel zum Thema bisher, gefällt mir besonders da im Ggs. zu anderen hier mal endlich belastbare Daten erwähnt werden, nämlich die Einwohnerzahlen (40, 2x 60, 37, 36 und 28-Tausend). Die Hypothese, dass pro Kopf dort mehr Amokläufer heranwachsen, sollte zu einer wissenschaftlich Publikation ausgearbeitet werden - auch wenn mir gleich Gegenargumente wie z.B. die Verfügbarkeit von Waffen in Großstädten einfallen würde. Eine freundlicher Statistiker wird sich bestimmt finden, der bei der Analyse mithilft.

     

    Und lieber martin, Anekdoten sind statistisch/wissenschaftlich wertlos wie jeder 100-jährige Raucher zeigt. Ferner geht es um die wenigen Prozent/mille welche dort einfach nicht ihre Nische finden.

  • MR
    Martin Reinhardt

    Eine Kleinigkeit: Winnenden ist keine liebliche Kleinstadt im ländlichen Umland wie. Winnenden ist eine Vorstadt von Stuttgart. Der Ort ist damit Teil eines Ballungsraums, der nur deshalb nicht so offensichtlich verwachsen ist wie München, Hamburg oder Berlin, weil die hubbelige Landschaft das erschwert. Mit der S-Bahn kommt man im 15-Minuten-Takt ins Zentrum. Klar ist Stuttgart nicht die große weite Welt. Aber wir reden in dem Fall von einer 600.000-Einwohnerstadt in einem Drei-Millionen-Ballungsraum und Einwohnern aus 100 Nationen. Da gibt eine Menge Peergroups für eine Menge Interessen. In dem Beitrag klingt vieles überzeugend. Aber es an der Stadtgröße festzumachen ist zu kurz gesprungen.

  • M
    martin

    Bin selber in einer kleinstadt groß geworden, und dort gab es genug Möglichkeiten für einen freien Lebensstil, der verfasser sollte vielleicht mal einen Ausflug in die Provinz machen, er würde sich sehr wundern.

  • I
    Icke

    Super Artikel, ihr treffts mal wieder auf den punkt.

  • HS
    Harald Schuler

    Sie schreiben: "Apropos: Psychotherapeutische Behandlungen von gefährdeten Jugendlichen sind - was denken die Nachbarn? - in solchen Städtchen sowieso verpönt, was im aktuellen Fall Winnenden angesichts des Verhaltens der Eltern von Tim K. ebenso zu beobachten ist. Ihr Sohn sei nicht in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, behaupten sie. Die Ärzte von Tim K. sagen das Gegenteil."

     

    Für die Eltern geht es um etwas anderes. Wenn er wirklich in Behandlung war und deshalb unübersehbar psychich labil, hätten die Waffen noch viel vorausschauender weggeschlossen werden müssen - und die Chancen des Vaters, einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung zu entgehen, würden rapide schwinden.

  • N
    nemo

    Selbiger Artikel geht zumindest im Fall von Tim K. von einer falschen Voraussetzung aus. Tim K. lebte und wuchs in Weiler zum Stein auf. Selbiges Dorf hat durchaus, wie bekannt, ein reges Vereinsleben und die sogenannte "Wärme des Dorfes" die sich angesichts der Anforderungen der Pubertät und den damit verbundenen Bedürfnisse solcher jungen Männer allerding als nicht zureichend für eine befriedigende Freizeitgestaltung darstellen dürften. Vielmehr wird dann am Wochenende in der Großstadt auf den Putz gehauen, ansonsten ist dort einfach tote Hose.

     

    Gruß Nemo

  • N
    Nemo

    Selbuger Artikel geht zumindest im Fall von Tim K. von einer falschen Voraussetzung aus. Tim K. lebte und wuchs in Weiler zum Stein auf. Selbiges Dorf hat durchaus, wie bekannt, ein reges Vereinsleben und die sogenannte "Wärme des Dorfes" die sich angesichts der Anforderungen der Pubertät und den damit verbundenen Bedürfnisse solcher jungen Männer allerding als nicht zureichend für eine befriedigende Freizeitgestaltung darstellen dürften. Vielmehr wird dann am Wochenende in der Großstadt auf den Putz gehauen, ansonsten ist dort einfach tote Hose.

     

    Gruß Nemo