■ Nach Moskau am 9. Mai? Fortsetzung der Debatte: Dürfen Deutsche nur Europäer sein?
Da fordern europäische Intellektuelle und europäische Parlamentarier die Großen dieser Welt auf, am 9.Mai mit ihrer Anwesenheit in Moskau den barbarischen Krieg in Tschetschenien nicht zu legitimieren, und schon fühlen sich deutsche Politiker, Intellektuelle und Journalisten unwohl in ihrer deutschen Haut. Denn: Deutschland sei nun mal – und das ist nicht zu leugnen – verantwortlich für den Tod von 20 Millionen Russen im Zweiten Weltkrieg. Abgesehen davon, daß Stalin verantwortlich für etliche Millionen Tode in Rußland ist, und abgesehen davon, daß es der Hitler-Stalin-Pakt der deutschen Wehrmacht ermöglicht hat, so weit zu kommen, meine ich, daß die aufrechte deutsche Frau und der aufrechte deutsche Mann es in diesen Tagen wahrlich schwer hat.
Ein Dilemma bleibt: Weder Mitterrand noch Kohl, noch Clinton, noch Major werden am 9.Mai in Moskau mit Menschenrechtsorganisationen reden, noch werden sie das Schlachten in Grosny ansprechen. Und die russischen Panzer, die in Moskau durch die Straßen paradieren werden, sind nicht diejenigen, die Warschau, Auschwitz oder Berlin befreit haben, sondern diejenigen, die Budapest, Prag und Grosny unterdrückt haben. Die Blutspuren, die sie tragen, sind nicht die des antifaschistischen Kampfes, sondern die der stalinistischen und post-stalinistischen nationalistischen Repression. Deswegen dürfen auch die Deutschen 50 Jahre nach der Niederlage der Wehrmacht, die eine Befreiung war, ein barbarisches Gemetzel eine Schweinerei nennen. Deshalb soll sich Helmut Kohl eher in einer Rede in Warschau, Budapest, Prag oder anderswo für das Morden der faschistischen Truppen entschuldigen als in Moskau in trüben Zeiten im trüben zu fischen.
Natürlich wird er seinen Busenfreund Boris an die Brust nehmen, natürlich werden sich alle gegenseitig die grausamen Zeiten im Zweiten Weltkrieg verzeihen, wenn die Rechnung stimmt, und die Opfer in Tschetschenien und Bosnien werden mit Wodka begossen. Aber so muß es wohl sein, 50 Jahre nach der erzwungenen Niederschlagung der Nazi-Herrschaft. Daniel Cohn-Bendit
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