piwik no script img

Archiv-Artikel

Na, wie bin ich?

Früher hatten wir Neurosen, die in all ihrer Zwanghaftigkeit letztlich auch unser Selbst konstituierten. Heute haben wir keine solchen Störungen mehr – aber auch keine wirkliche Identität. Ein Fortschritt?

VON MARTIN ALTMEYER

In der wilhelminischen Ära galt die reizbare Schwäche der Nerven als Leitsymptom einer epidemisch sich ausbreitenden Befindlichkeitsstörung. Joachim Radkau, der rückblickend von einem „Zeitalter der Nervosität“ spricht, registriert bereits für damals eine gewisse Selbstbezüglichkeit: „Ohne Nervendiskurs keine Nervosität!“ Die Zeiten ändern sich – und mit ihnen die Diskurse und Zeitdiagnosen. Hatten in den 40er-Jahren Wilhelm Reich, Adorno und Horkheimer den faschismusanfälligen „autoritären Charakter“ entdeckt, übernahm in den 70ern die konsumanfällige „narzisstische Persönlichkeit“ die Rolle des vorherrschenden Sozialcharakters: Als „neuer Sozialisationstyp“ (Thomas Ziehe) hatte der orale Flipper den analen Scheißer abgelöst.

Kaum eine Generation später sind statt Selbstbezogenheit und Vereinzelung Begriffe wie Interaktion, Vernetzung, Medialisierung zu zeitdiagnostischen Schlüsselwörtern geworden. Und im Dauerdiskurs über Individuum und Gesellschaft zeichnet sich der nächste Paradigmenwechsel ab: Das Subjekt löse sich auf in den virtuellen Welten der Mediengesellschaft. Die universellen Netzwerke reduzierten die Einzelnen auf bloße Knotenpunkte des interaktiven Geschehens. Lebensgeschichte werde entwertet, Persönlichkeit zähle nicht mehr. Man erinnert sich an Michel Foucaults Bild vom Menschen als einer Sandfigur am Meer, die von der nächsten Flut zum Verschwinden gebracht wird. Jene Endzeitstimmung, die in den Diskursen über den autoritären Sozialcharakter oder eine narzisstische Kultur bereits mitschwang, hat sich nun zum apokalyptischen Lamento über die Subjektlosigkeit des Subjekts gesteigert: Die allseits vernetzte Seele sei im Grunde seelenlos. Was hat sich aber, jenseits ästhetischer Metaphern der Auflösung, wirklich verändert in der zeitgenössischen Psyche?

Epidemiologische Untersuchungen zur mentalen Verfassung westlicher Gesellschaften stimmen darin überein, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine epochale Verschiebung in den psychopathologischen Störungsmustern stattgefunden hat. Selbstwert- und Bindungsprobleme, diffuse Ängste und depressive Verstimmungen, Süchte und Perversionen, so genannte Borderline-Persönlichkeitsstrukturen und narzisstische Störungen haben zugenommen. Gleichzeitig sind die symptomatisch gut abgegrenzten, nach klassisch-psychoanalytischem Modell auf Triebverdrängung beruhenden und mit unbewussten Schuldgefühlen verbundenen Psychoneurosen wie Hysterie, Phobie oder Zwangsstörungen seltener geworden. Entsprechende Zeitdiagnosen, ob psychoanalytischer, sozialwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer, sexualmedizinischer oder familiensoziologischer Provenienz teilen einen Kernbefund: Nicht mehr Sexualität, Identität ist nun das seelische Hauptproblem.

Das Leiden am Selbst, so scheint es, hat jenes Leiden an einer sexualfeindlichen Kultur ersetzt, mit dem es Sigmund Freud vorwiegend zu tun hatte. Wer bin ich eigentlich? Wer will ich sein? Wie sehen mich die anderen und wie möchte ich gesehen werden? Um solche Fragen kreisen heute die verunsicherten Subjekte, die sich vorgegebener Lebensschicksale, traditioneller Beziehungsmuster sowie linearer Berufsbiografien zunehmend beraubt sehen. Eine individualisierte Lebenswelt, die viel erlaubt und wenig Orientierung gibt, verändert auch das Verhältnis der Individuen zu sich selbst.

Der Sexualforscher und Psychoanalytiker Reimut Reiche bestreitet allerdings, dass dem Symptomwandel an der Oberfläche auch ein Strukturwandel in der Tiefe des psychischen Geschehens entspricht. Das Reflexivwerden einst unbefragter Gewissheiten habe nur dazu geführt, dass die Individuen jene Brüche in ihrer psychischen Identität, die sie früher sprachlos in der Arena des Schicksals, der Religion oder der Armee ausgetragen hätten, heute in den Sprachspielen der Selbstverwirklichung interpretierten. Im Grunde habe sich nichts geändert: Intrapsychisch gehe es nach wie vor um die Freud’sche „Strukturformel“, die ödipale Trias von Trieb, Versagung und Schuld, die von ihrer persönlichkeitsbildenden Bedeutung nichts verloren habe.

Während Reiche die neuen Störungen als zeitgemäße Verkleidungen der guten alten Neurose enttarnt, kommt der französische Soziologe Alain Ehrenberg in gewisser Weise zum umgekehrten Schluss. Er hat die depressive Verstimmung als neue Zeitkrankheit ausgemacht, die bloß klingt wie eine alte Bekannte: Die heutige Depression ist nicht mehr die klassische „Krankheit der Schuld“, sondern eine „Krankheit der Verantwortung“. Das von der Multioptionsgesellschaft überforderte Selbst leide an einem Überschuss an Freiheit und trage schwer an den ihm zugemuteten Entscheidungen. Die unablässige Suche nach einer Lösung seiner Lebensprobleme ermüde auf Dauer das Subjekt. Im Zentrum des subjektiven Leidens stehe eine Mischung aus Ungenügen, Niedergeschlagenheit und Verlangsamung, die allmählich ein Loch im Selbst verursache. Die zunehmenden Süchte in Gestalt von Essstörungen, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, manischer Arbeits- oder Geltungssucht sowie suchtartiger Therapiebedürftigkeit hätten die Funktion, die depressive Leere zu füllen. Die Sucht sei aber nur „das zweite Gesicht der Depression“, die den Kern des gegenwärtigen Sozialcharakters ausmache.

Ganz anderer Art ist der zeitdiagnostische Zugriff des Medienanalytikers Georg Franck, der die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ erfunden hat. In einer medialisierten Gesellschaft bewege sich das Selbst auf einem Markt, wo nicht Ware gegen Geld, sondern Darstellung gegen Beachtung getauscht wird. Wer hier ins Licht der Scheinwerfer gerät, nimmt teil – ob er das will oder nicht – an jener eigentümlichen Ökonomie, die auch Person und Persönlichkeit noch zur Ware macht. Bei dieser neuen Wirtschaftsform wird die Banken- und Börsenfunktion von den Massenmedien übernommen. Sie kontrollieren Zahlungsmittel und Tauschwerte auf einem Markt, der früher exklusiv den Reichen, Schönen und Bedeutenden vorbehalten war und heute jedermann offen steht. Sein kostbarstes Gut ist das Authentische, ein Charakter, der sich gut vermarkten lässt.

Die Individuen, die sich dieser neuen Ökonomie unterwerfen, hoffen auf die Spiegel- und Echoräume der Mediengesellschaft. Diese soll ihnen nicht nur Prominenz und Karriere, sondern auch Identität vermitteln: Unbewusstes Ziel des selbstdarstellerischen Akts ist nämlich die identitätsstiftende Spiegelung im anderen. Im mentalen Tauschverhältnis (Selbstdarstellung gegen öffentliche Aufmerksamkeit) enthüllt dabei der Narzissmus seine verborgene zwischenmenschliche Dimension.

Ein Beispiel: Es gibt eine gut besuchte Seite im Internet, die unter der Jugend heiß genutzt wird und in der amerikanischen Originalversion „Hot or not?“, im Deutschen „Bin ich sexy?“ heißt. Dabei wird das eigene Foto ins Netz gestellt, um es von Unbekannten auf einer Skala bewerten zu lassen. Das so genannte „Attraktivitätsbarometer“ reicht von 1 („völlig unattraktiv“) bis 10 („ausgesprochen attraktiv“). Neben einem individuellen Durchschnittswert gibt es zusätzliche Rankings; in „Best of“-Tabellen werden etwa der „attraktivste Student“ oder die „attraktivste Sekretärin“ vorgestellt.

Die Bewertungen durch anonyme BetrachterInnen liefert nun nicht nur das begehrte Feedback aus der virtuellen Welt, sie bilden auch Gesprächsstoff in der Clique. Die fotografische Selbstpräsentation sucht bloß unmittelbar die Antwort des Mediums, mittelbar die der eigenen Gruppe, der die unausgesprochene Frage gilt: Na, wie findet ihr mich? Bei diesem narzisstischen Spiel um das eigene Bild geht es keineswegs um Sexualität, wie uns der Titel dieser Website glauben lassen möchte, sondern um so etwas wie intersubjektive Resonanz: eine reflexive Form der Selbstvergewisserung, die den anderen als Spiegel verwendet.

Der gleiche Wunsch nach spiegelnder Aufmerksamkeit erklärt auch die massenhafte Teilnahme an Talk-, Reality- und Castingshows. Solche Formate bieten mehr oder weniger unbekannten Menschen eine Bühne, auf der sie sich präsentieren und berühmt(er) machen können. Indem fantasievoll immer wieder neue Gelegenheiten zur medialen Selbstdarstellung geschaffen werden, bedient man ein panoptisches Bedürfnis nach dem Gesehenwerden. Auch die Underdogs haben diese Botschaft der Postmoderne verstanden: Wer etwas werden will, muss sich vor die Kamera drängen und von ihr beachtet werden. Was die Teilnehmer sich davon versprechen, ist eine Steigerung ihres Werts in einer Münze, die auf dem Markt des mentalen Kapitalismus – aber nicht nur dort – etwas zählt: auffallen, sich unterscheiden, unverwechselbar sein. Und die Zuschauer interessieren sich für solche Prozesse öffentlicher Selbstfindung oder Selbsterfindung – selbst wenn sie insgeheim auf ein Misslingen hoffen mögen. Häme und Peinlichkeiten gehören zu diesem interaktiven Spiel um das eigene Selbst dazu, das neben Identitätsgewinnern eben auch Identitätsverlierer hervorbringt.

Nun rümpft der Medienkritiker gerne die Nase über den Verlust von Privatheit und Intimität, über die narzisstische Lust am eigenen Bild, der wir im zeitgenössischen Alltag überall begegnen. Wenn er im Verachtungsvokabular den Sündenfall der Medialisierung verdammt, nimmt er freilich selbst teil am Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Bedeutung. Auch er möchte gelesen, gehört, gesehen werden. Für seine Diskursbeiträge braucht er seinerseits einen gesellschaftlichen Resonanzboden, den er im Feuilleton findet, im öffentlich-rechtlichen Kulturprogramm oder zumindest auf seiner persönlichen Homepage, deren „click rate“ er verfolgt. So enthüllt der mediale Narzissmus – auf hoch kultureller Ebene genauso wie in den Niederungen der Trashkultur –, dass Identität keine einsame Errungenschaft des Individuums ist.

Die gegenwärtigen Schaubühnen der Lebenswelt verraten uns zweierlei über die Natur der menschlichen Seele – und die Quellen ihrer Störbarkeit. Die Psyche ist erstens nicht monadisch, sondern intersubjektiv verfasst. Das Selbst ist auf den anderen angewiesen, von dem es sich gesehen, anerkannt, geliebt fühlen möchte, mit dem es sich identifizieren kann, von dem es sich aber auch abgrenzen, den es angreifen oder sogar vernichten mag. Zweitens hat die Psyche autopoetische Eigenschaften, sie bringt sich in gewisser Weise selbst hervor. Psychische Strukturen bilden sich zwar in Interaktionen mit der äußeren Wirklichkeit, aber nicht als deren schlichtes Produkt oder Abbild. Sie bilden sich zwar in Auseinandersetzung mit inneren Dispositionen, aber nicht als deren bloße Entfaltung.

Weder das familiendynamische Modell der klassischen Psychoanalyse (mit ihrer Annahme determinierender Kindheitserfahrungen) noch eine humangenetisch oder neurowissenschaftlich verkürzte Biologie (mit ihrem Determinismus der Natur) noch die Milieutheorie (mit ihrer Idee einer sozialen Prägung) werden dem gerecht, was doch die Conditio humana ausmacht: dass „sich mentale Zustände, die wir nicht auf instrumentellem Wege manipulieren können, dieser Art von kausalen Erklärungen entziehen“. Mit diesem Argument hat Jürgen Habermas den Reduktionismus monistischer Theorieansprüche zurückgewiesen. Subjekte lassen sich nicht herstellen, sie stellen sich selbst her.

Jenseits aller Zeitdiagnosen lässt sich eine Art anthropologisches Fazit formulieren: Beginnend als hilflos geborener Säugling bleibt der Mensch auf Beziehungen angelegt, durch die hindurch er sich als Individuum auch intrapsychisch konstituiert. Auf die wirkliche Welt bezogen, zwischen Innen und Außen vermittelnd, das Selbst mit dem anderen virtuell (um nicht zu sagen: unbewusst) verbindend, gehört die „vernetzte Seele“ zur Grundausstattung menschlicher Existenz.

MARTIN ALTMEYER, geboren 1948, ist Psychologe und Autor. Er lebt in Frankfurt/Main