NSU-Prozess zu Kölner Bombenanschlag: Wenn Opfer zu Tätern werden

Das Gericht verhandelt erstmals über das Attentat von 2004 in der Keupstraße. Ob auch Fehler der Polizei thematisiert werden, ist offen.

„Ein Ort der Verwüstung“: Der Tatort kurz nach dem Anschlag. Bild: dpa

Es ist der 9. Juni 2004: Die Leute in der Kölner Keupstraße schlendern an den Geschäften vorbei, genießen den Sommertag. Im Friseursalon, Hausnummer 29, lassen sich junge Männer die Haare schneiden. Dann ein Knall. Über 700 zehn Zentimeter lange Nägel schießen durch die Luft. Sie bohren sich in Wände, Autos, Gesichter. Blutüberströmt und blind vom Rauch einer zwei Meter hohen Stichflamme taumeln die Kunden auf die Straße.

22 Menschen wurden teils lebensgefährlich verletzt. Es grenzt an ein Wunder, dass niemand starb bei dem größten Bombenanschlag, den Deutschland seit dem Attentat auf das Oktoberfest in München 1980 erlebte und der dem NSU-Trio zugeschrieben wird.

Am Montag wurde über das Nagelbombenattentat am ersten Verhandlungstag des NSU-Prozesses in diesem Jahr zum ersten Mal vor dem Oberlandesgericht in München verhandelt. Uwe Mundlos, einer der mutmaßlichen Täter, soll damals ein silberfarbenes Damenfahrrad vor dem Friseursalon abgestellt haben. Auf dem Gepäckträger einen schwarzen Hartschalenkoffer – die Bombe.

Er war gefüllt mit einer blauen Campingflasche, mindestens 700 Nägeln und 5,5 Kilogramm Schwarzpulver. Uwe Böhnhardt, ein weiterer mutmaßlicher Täter, wartete wohl ein paar Meter weiter. Etwa um 16 Uhr sollen sie die Bombe per Fernsteuerung gezündet haben und dann auf Fahrrädern geflohen sein.

Einiges schief gelaufen

Martin Waloßek war als Sprengstoffexperte des Landeskriminalamtes (LKA) Düsseldorf damals einer der Ersten vor Ort. Am Montag steht er vor der Richterbank und erläutert mithilfe von Fotos das „Bild der Verwüstung“ am Tatort: Das Schaufenster des Friseurladens ist völlig zerstört. Scharfe, große Glassplitter und Fassadenstücke liegen auf dem Gehsteig.

Die große, gelbe Markise liegt zerfetzt auf einem parkenden Auto vor dem Laden. „Da sind ordentliche Kräfte am Werk gewesen“, sagt er. Die Nägel schossen mit solcher Wucht durch die Luft, dass sie sogar über dreistöckige Häuser in Hinterhöfe flogen.

Im Umkreis von 250 Metern um den Friseursalon fanden die Ermittler die zerfetzten Reste der Bombe und des Fahrrads, anhand deren sie Genaueres über den Anschlag ermittelten. Das silberne Fahrrad hatte das NSU-Trio, zu dem Mundlos und Böhnhardt gehörten, offenbar auf einer Auktion von Aldi Süd erstanden.

Den Ständer tauschte es durch ein stabileres Modell aus, weil das Rad mit der schweren Bombe auf dem Gepäckträger wohl umgekippt wäre. Auch Fahrradtasche, Batterien und Drähte für den Zünder archivierten die Experten akribisch. Bei den übrigen Ermittlungen ist allerdings einiges schiefgelaufen.

Videos von Viva

Nur ein paar Meter entfernt in einem roten Klinkerbau hatte der Musiksender Viva seinen Sitz. Auf dem Material der Überwachungskameras schiebt ein Mann ein Fahrrad, das dem bei dem Anschlag benutzten ähnelt, durch das Bild. Von Statur und Bewegung könnte es Mundlos sein, doch die Ermittler hatten das Material nur „lückenhaft beobachtet“, sagt Nebenkläger Yavuz Selim Narin.

Einen Zusammenhang mit dem ersten Bombenanschlag des NSU 2001 in der Kölner Altstadt sahen sie nicht. Obwohl LKA-Profiler eine Verbindung zu „fremdenfeindlichen Straftaten“ sahen, ermittelte die Polizei vor allem gegen die größtenteils türkischstämmigen Anwohner der Keupstraße.

„Die Polizei hat Opfer zu Tätern gemacht“, sagt Timo Glatz, Sprecher der Initiative „Keupstraße ist überall“. Glatz befürchtet, dass die „fehlerhafte Polizeiarbeit“ vor Gericht kein Thema sein werde. In der nächsten Woche, wenn zum ersten Mal Opfer des Bombenanschlags aussagen, wird er deshalb in München demonstrieren. Er rechnet mit insgesamt 500 Unterstützern.

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