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NS-Film über FamiliengeschichteÜber die Grenze

In „Flucht 1937“ erzählt die 14-jährige Abigail Mathew die Geschichte ihres Uropas, der sich in Osnabrück gegen den NS-Terror auflehnte.

Übernimmt in ihrem eigenen Film eine Rolle: die 14-jährige Abigail Mathew Foto: Abi & Friends G.d.V.

Osnabrück taz | Zwei Mädchen auf der Straße. Sie unterhalten sich, lachen, Sommerkleider wehen. Dann geschieht es: Eine Streife verstellt ihnen den Weg. Aus einem Wagen steigen zwei Gestapo-Beamte. Nachbarn schließen Fenster und Türen. Eine Szene aus dem 90-Minüter „Flucht 1937“. Nichts an diesem Film ist gewöhnlich.

Eine 14-Jährige hat ihn gedreht: Abigail Mathew aus Osnabrück. Die meisten Darsteller sind Laien, die Kameraleute sind es auch. Es gibt kein Drehbuch, kein Storyboard, kaum Budget. Das Licht kommt aus Baustellenlampen. Aber es ist ein beeindruckender Film – durchdacht, komplex, bewegend. Dokumentarisches verschmilzt mit Spielszenen, Farbe mit Schwarzweiß, Filmmaterial aus den 30er- und 40er-Jahren ist verwoben, Song- und Off-Text. Dass dieser Film seinen Weg ins Kino finden wird, gar ins Ausland, ahnte zu Beginn niemand.

Die Geschichte von „Flucht 1937“ beginnt Mitte 2015 am Ratsgymnasium Osnabrück: Deutschunterricht, Thema ist die NS-Zeit. Abigail Mathew erzählt, dass ihr Urgroßvater Wilhelm Hellmeister im Juli 1937 den Eltern von Felix Nussbaum bei der Flucht von Osnabrück nach Amsterdam geholfen haben soll. Den Eltern jenes jüdischen Malers, für dessen Bilder die Stadt Osnabrück später vom Architekten Daniel Libeskind ein Museum bauen ließ. 1944 wurde Nussbaum in Auschwitz ermordet.

Mathew willigt ein, über diese Flucht ein Referat zu halten – und beginnt mit ihrem Vater Mark eine Recherche. Sie hält das Referat, danach recherchieren sie weiter, sechs Monate. Sie forschen in Archiven und Museen, befragen Zeitzeugen und Historiker, besuchen Schauplätze.

Häftlingskarteikarten tragen sie zusammen, Fotos, Akten, Briefe. Am Ende steht fest: Die Geschichte stimmt – nur nicht ganz. Die Fluchthilfe galt Nussbaums Bruder Justus und Alfred Gossels. Wilhelm Hellmeister ist einer ihrer Arbeiter. Mit einem Kollegen, Friedrich Niehüser, bringt er Nussbaum und Gossels über die Grenze. Nussbaum flieht mit Frau und Tochter, Gossels mit seiner Freundin.

Die Recherche ist so ergebnisreich, dass dass Abigail Mathew eine Idee hat: ein Dokumentations-Video. Aus dem wird schnell mehr: „Wir dachten uns: Warum drehen wir nicht ein paar der Geschehnisse von damals einfach nach?“, sagt sie. Sie suchen Gleichgesinnte, unter Arbeitskollegen, Bekannten, Freunden. Wenn ihnen auf der Straße jemand auffällt, der den Personen von einst ähnelt, sprechen sie ihn an. Am Ende ist die Crew 70 Köpfe stark. Der älteste Darsteller ist 80, der jüngste zwei Jahre alt.

Klar, es gibt Hilfe. Hubertus Wilker, Medienzentrum Osnabrück, berät beim Kauf der Kamera, beim Schnitt. Christine Grewe, Osnabrücker Büro für Friedenskultur, sorgt dafür, dass „Flucht 1937“ Teil der Osnabrücker Gedenkveranstaltungen zur Pogromnacht 1938 ist: Am 6. November wird im 309-Sitze-Saal 3 des Cinema-Arthouse Premiere gefeiert. Das Osnabrücker Felix-Nussbaum-Haus gibt Rat.

Aber im Grunde macht Abi’s Crew, wie es im Abspann steht, alles allein. Viele haben nicht nur eine Funktion. Allen voran Abigail Mathew. Sie textet, sucht Drehorte, schauspielert, inszeniert. Ein Dreivierteljahr dauern Planung, Drehs und Postproduktion. Die Requisiten sind stimmig, von der Schreibmaschine bis zum Kinderwagen. Die Kostüme, nicht zuletzt vom örtlichen Amateurtheater „Probebühne“, sind eindrucksvoll.

Das Automuseum Melle sorgt für einige der wichtigsten Eyecatcher. Beate Mathew, Abigails Mutter: „Die haben uns richtig Nachhilfe gegeben: Nein, den da könnt ihr nicht nehmen, den gabs damals noch nicht.“ Abigail Mathew: „Zehn Leute haben wir gebraucht, um diesen schwarzen Mercedes rauszurollen, der war nämlich erst nicht fahrbereit.“

Sicher, wer genau hinsieht, merkt, dass manches nicht original ist – Uniformen, Nummernschilder. Und im Amsterdam der 30er-Jahre ist ein moderner Auto-Seitenspiegel zu sehen. Aber das hat Charme. Das Treppenhaus der Polizeidirektion Osnabrück war allerdings auch ohne jedes Zutun ein perfektes Set. Oder das Museum Villa Schlikker, einst Osnabrücks NSDAP-Zentrale. Von den Zellen der Gedenkstätte Gestapokeller im Osnabrücker Schloss ganz zu schweigen. Auch direkt vor ihrer Haustür hat Abigail Mathew gedreht: „Da ist so schönes Kopfsteinpflaster.“

Und dann erzählt sie. Dass den Score ein Musiker aus Moskau komponiert hat, Kontakt übers Internet. Wie es ist, an Originalschauplätzen zu drehen. „So eine Arbeit formt dich schon sehr. Allein, wenn ich an meinen Urgroßvater und seinen Kollegen denke: Wie mutig die waren!“

Abigail Mathew ist noch sehr jung, aber auch schon sehr erwachsen: „Wir wollten da so genau wie möglich sein. Also versetzt du dich in die Tage von damals. Wie dachten an die Leute, wie redeten sie, wie haben sie sich bewegt.“ Gedreht wurde fast jedes Wochenende, manchmal auch während der Woche.

Am Ende waren es 36 Stunden Rohmaterial. Die drei Wochen, die für den Schnitt zur Verfügung standen, schmolzen rasch dahin. Eine 110-Minuten-Fassung wurde verworfen. Irgendwann war der Film fertig. Also fast, die englische Tonfassung dauert noch bis zum Frühjahr. Anfragen aus Amsterdam sind da, aus San Diego, Cincinnati, Los Angeles, Boston, Buenos Aires.

Die Fluchthilfe von Abigails Urgroßvater war übrigens, letztlich, vergebens. Alfred Gossel, Justus Nussbaum und seine Familie starben im KZ.

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