NRW-Wahl: SPD probiert Konzept "Kirmes"
In Paderborn wählt nur noch jeder Fünfte SPD. Doch in Gelsenkirchen holt ein Bürgermeister 64 Prozent. Wie nur?
Ute Berg hat das Desaster der Sozialdemokraten bei den Bundestagswahlen ihr Mandat gekostet. In ihrem Wahlkreis Paderborn haben nur 20 Prozent der WählerInnen ihr Kreuz bei der SPD gemacht. Nirgendwo in Nordrhein-Westfalen hat ihre Partei schlechter abgeschnitten.
Von einer Niederlage aber will die ehemalige wirtschaftspolitische Sprecherin der SPD im Bundestag nicht sprechen. "Wir haben wesentlich weniger verloren als im Bundesschnitt", sagt Berg. Während die SPD um über elf Prozent absackte, waren es im traditionell konservativen Paderborn, Sitz eines katholischen Erzbischofs mit angeschlossenem Priesterseminar, nur sieben.
Gründe für das Wahldebakel? "Natürlich waren die Arbeitsmarktreformen und die Rente mit 67 nicht populär", sagt die 56-Jährige. Dann zitiert die Gesamtschullehrerin Willy Brandt: "Sicherheit im Wandel" habe er versprochen, sagt die Wirtschaftsexpertin und fordert Mindestlöhne, eine Börsenumsatzsteuer, geißelt die "Exzesse der Managergehälter". Eine völlige Abkehr von der Regierungspolitik der Regierungen Schröder und Merkel aber sei "wenig glaubwürdig", warnt Berg vor dem Dresdner SPD-Bundesparteitag.
Sie klingt dabei wie Gelsenkirchens erfolgreicher SPD-Oberbürgermeister Frank Baranowski. "Die Agenda 2010 hat die Sozialsysteme bis heute gerettet", sagt der 47-Jährige, der seiner Partei bei den Kommunalwahlen ein Traumergebnis bescherte. Fast 64 Prozent der Gelsenkirchener entschieden sich in direkter Wahl für Baranowski. Und bei den Bundestagswahlen zog der Sozialdemokrat Joachim Poß nach: Über 54 Prozent wählten den Finanzexperten und bescherten ihm das beste SPD-Erststimmenergebnis bundesweit.
Warum die SPD gerade im armen Gelsenkirchen noch immer so stark sei? Auch Baranowski stockt. "Ehrlich" müsse die Partei sein, sagt der Rathauschef, "vor Ort präsent". In Gelsenkirchen sei "die SPD-Familie noch intakt", glaubt auch der SPD-Unterbezirksvorsitzende Dietmar Dieckmann. Zwar hat die Partei seit den Siebzigern 8.000 ihrer damals 12.000 Mitglieder verloren, doch die Zusammenarbeit mit Vorfeldorganisationen wie der Arbeiterwohlfahrt oder den Falken funktioniere noch.
Baranowski wird deutlicher: Außerhalb Gelsenkirchens habe seine Partei viel zu oft den Kontakt zu den Wählerinnen und Wählern verloren. "Wir haben Personal, dem oft nicht mehr abgenommen wird, dass es die Probleme der Menschen kennt." Beispiel Gesundheitspolitik: "Das Bundesgesundheitsministerium kann sich doch nicht hinstellen und die Zwei-Klassen-Medizin leugnen", schäumt der Bürgermeister, "wo die Leute doch genau das täglich sehen." Zwar werfe ihm die Gelsenkirchener Opposition vor, "auf jede Katzenkirmes" zu gehen - doch gerade deshalb wisse er, was die Menschen bewege: "Das klassische SPD-Thema Gerechtigkeit."
Damit will auch NRW-Parteichefin Hannelore Kraft bei den Landtagswahlen im kommenden Mai punkten. Mit den Themen Mindestlohn, Abschaffung der Hauptschulen und der Bekämpfung des Sozialmissbrauchs bei der Leiharbeit müsse es möglich sein, den selbsternannten CDU-Arbeiterführer und NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers zu schlagen, sagt Krafts Generalsekretär Michael Groschek: "Bei der Landtagswahl sehe ich eine gute Chance, stärkste Fraktion zu werden."
In der Landesgruppe der SPD-Bundestagsabgeordneten ist man da vorsichtiger, warnt vor der Konkurrenz durch die Linke: "Wenn Hannelore das NRW-Ergebnis der Bundestagswahlen wiederholen kann, wäre das schon ein Erfolg", sagt ein Parlamentarier, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will. Im September kamen die Sozialdemokraten in ihrem einstigen Stammland auf gerade einmal 28 Prozent.
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