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NACHRUFDer Sammler Europas

Kann einer einem Thema, zu dem bereits alles gesagt ist, noch etwas Überraschendes hinzufügen? Predrag Matvejević konnte es. In seinem Buch Das andere Venedig tauchte der kroatische Kosmopolit unter die Oberfläche der Lagunenstadt und beschrieb Pfähle, Muscheln und die verschiedenen Stadien der Fäulnis.

So breitete Matvejević das stoffliche Archiv einer Stadt aus, die einmal Republik gewesen war und Kolonialmacht zugleich. Denn natürlich stammen die Pfähle, auf denen Venedigs Paläste ruhen, aus Istrien. Ohne die Ausbeutung ihrer Kolonien hätte die Serenissima nicht den Ruhm erlangt, von dem ihr Mythos bis heute zehrt.

Dass Matvejević Venedig aus postkolonialer Perspektive beschrieb, hat auch mit seiner Biografie zu tun. 1932 in Mostar als Sohn einer Kroatin und eines Ukrainers geboren, wusste er, dass die mondäne Riva ­degli Schiavoni nahe dem Markusplatz sowohl den Slawen als auch den Sklaven ihren Namen verdankt. „Wenn ich über diese Brücke laufe, ergreifen eigentümliche slawische Gedanken von mir Besitz“, notierte er.

Leider war er in Deutschland nicht so bekannt wie sein Freund, der Triestiner Claudio Magris. Sein bereits 1987 verfasstes fulminantes Buch über das Mittelmeer erschien hierzulande erst 1993 unter dem Titel Der Mediterran. Darin beschrieb Matvejević unter anderem alte Seefahrerkarten. Das Kartieren war sein Zugang zur Welt des Mittelmeers, in deren Vielfalt er sich zu Hause fühlte.

Aber schon als das kroatische Original erschien, hatte er einen Begriff davon gehabt, welche Trennlinien durch diesen Teil Europas verlaufen: „Schon hinter dem ersten Bergrücken verliert sich die Bindung ans Meer, das Land verwandelt sich plötzlich zum Zagorje (Land hinter dem Berg), wird schwer zugänglich und rau.“ Die Jugoslawienkriege, vor denen Matvejević nach Frankreich floh, um dann in Rom slawische Literatur zu lehren, waren auch ein Konflikt zwischen dem Kosmopolitismus der Küsten und dem Ressentiment des Hinterlands.

Am vergangenen Donnerstag verstarb Predrag Matvejević in Zagreb. Sein letztes Buch handelt von einem Kulturgut, das alle Völker des Mittelmeers verbindet, dem Brot. Uwe Rada

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