Mythos digitale Bibliothek: "Open Enteignung" durch GoogleBooks
Wissen zum Nulltarif, Demokratisierung durch Google? Das Schlagwort "Open access" klingt gut, doch auf dem Spiel steht die Bewahrung des Wissens unserer Gesellschaft.
Noch jede technische Innovation brachte ihre Mythen und Legenden hervor. Von der Eisenbahn glaubte man zunächst, sie mache sensible Seelen krank. Seit der Dechiffrierung des menschlichen Genoms kursiert das Gerücht, bald ließe sich Ersatz für marode Körperteile im Reagenzglas erzeugen. Mit dem Internet und den Suchmaschinen entstand der Doppelmythos, gesichertes Wissen sei erstens gratis zu haben und zweitens sei der Zugang zum Wissen damit "demokratisiert."
Mit diesem Argument wird der im Umfang beschränkte und teure, aber nach wissenschaftlichen Standards haushoch überlegene "Brockhaus" gegen quantitativ unbeschränkte und billige, aber wissenschaftlich ungesicherte Suchmaschinen und Netz-Enzyklopädien ausgespielt. Diese Alternative ist keine, denn nur eine aberwitzige Ideologie kann glauben machen, kompetent organisiertes Wissen sei dauerhaft zum Nulltarif zu haben.
Angesichts der ungelösten Probleme der Überprüfbarkeit und langfristigen Haltbarkeit von Netz-Enzyklopädien kann es nur darum gehen, neben diesen Medien auch den gedruckten wissenschaftlichen Lexika eine Überlebenschance zu sichern. Und das kann nicht privater Willkür überlassen bleiben, sondern ist eine kulturpolitische Aufgabe ersten Ranges wie die Erhaltung der Vielfalt der gedruckten Presse. Mit anderen Worten: Beides ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, da die Marktlogik hier nicht funktioniert.
Die Firma Google stellt bekanntlich auch ganze Bibliotheken ins Netz - manchmal auch unter Verletzung von Urheberrechten. Mit "GoogleBooks" entstanden, wie die beiden Philologen und Editionsspezialisten Roland Reuß und Uwe Jochum in ihrer Zeitschrift Textkritische Beiträge (Stroemfeld/Roter Stern) und auf ihrer Internetseite Textkritik.de darlegen, neue Mythen. Sie firmieren unter den Schlagwörtern "Open access", d. h. kostenloser Zugang zu und "weltweite Sichtbarkeit" von wissenschaftlichen Publikationen. Die "Herolde der Öffentlichkeit" präsentieren ihre Botschaft mit dem "Lametta der Demokratisierung" (Reuß) und versprechen obendrein, der Zugang zur Wissenschaft werde auch billiger.
Uwe Jochum hat nachgerechnet. Im Jahr 2005 kostete es die Universität Yale noch 4.648 Dollar, ihren Forschern einen einzigen Artikel aus einer digital erscheinenden hochspezialisierten biomedizinischen Zeitschrift zugänglich zu machen. Ein Jahr später verlangten die Quasi-Monopolisten 31.625 Dollar pro Artikel. Das entspricht dem Gegenwert von etwa sieben Jahresabonnements für konventionell gedruckte biomedizinische Zeitschriften. Billiger ist "Open access" also mitnichten - nur schneller.
Es wird jedoch verschleiert, wer die Beschleunigung bezahlt. In Yale war es die reiche private Stiftung, hierzulande wären es die Steuerzahler, die Bibliotheken finanzieren. Selbst die amerikanische Universität warf angesichts der hohen Kosten für "Open access"-Publikationen das Handtuch. Wenn Bibliotheken ihre Etats für den Bucherwerb zu Gunsten des Ankaufs digitalisierter Bestände umschichten, "höhlen sie sich von innen heraus aus" (Jochum). Wiegt das die Beschleunigung des Wissenstransfers wirklich auf?
Auch die "Deutsche Forschungsgemeinschaft" (DFG), die ausschließlich mit Steuermitteln alimentiert wird, propagiert den "Open-access-Wahnsinn" (Reuß). Allerdings nimmt sie das Schlagwort ernst, was nicht zu Mehrkosten bei den Bibliotheken, sondern zu grundsätzlichen Problemen führt. Die DFG möchte die Empfänger von Forschungsmitteln dazu zwingen, dass die Forschungsergebnisse nicht nur von Verlagen gedruckt, sondern "auch digital veröffentlicht und für den entgeltfreien Zugriff im Internet (Open access) verfügbar gemacht werden". Die Mehrheit der Wissenschaftsverlage sind mittelständische Untenehmen. Welcher Verlag wird wohl die Wahnsinnstat begehen, ein wissenschaftliches Buch zu drucken, wenn es am übernächsten Tag gratis vom Netz heruntergeladen werden kann? Aber das ist nur das kleinste der drei Hauptprobleme mit "Open access".
Das zweite ist die Erpressung und Entrechtung der Autoren. Hier geht die Universität Zürich voran. Sie verlangt zum Nachweis der Förderungswürdigkeit periodisch eine Liste der Publikationen der Forscher. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht zugleich und ultimativ verlangt würde, die Manuskripte mit den Forschungserträgen dem Uniserver, der kostenlos zugänglich ist, zur Verfügung zu stellen. Damit greift die Universitätsverwaltung direkt ins Urheberrecht ein, d. h. das Recht jedes Autors, seine Arbeit zu verwerten - und zwar wie, wann und wo er will. Der Autor wird auf kaltem Weg enteignet. Kein Wissenschaftsverlag wird ein Buch drucken, das bereits oder in absehbarer Zeit auf einem frei zugänglichen Server zu lesen sein wird.
Das dritte Problem ist von kulturpolitischer Brisanz. Wie lange erhalten und lesbar bleibt, was im Netz steht, ist völlig offen - 5 Jahre, 50 Jahre, 500 Jahre, "ewig"? Das heißt, die Gesellschaft, die ihre wissenschaftlichen und kulturellen Hervorbringungen allein im Netz speichert, läuft Gefahr, ihre Geschichte, ihr Wissen und ihre Kultur eines Tages über Nacht ganz zu verlieren oder stückweise zu vergessen. Dateien aus der ersten PC-Generation - keine 30 Jahre alt - sind nicht mehr oder nur mit gewaltigem Kostenaufwand lesbar zu machen.
Kein Mensch weiß momentan, wie groß die Gefahr ist, dass eines Tages zwar 3.000 Jahre alte ägyptische Hieroglyphen noch lesbar sind, aber 50 Jahre alte Texte nicht mehr. Den Ingenieuren und Wissenschaftstechnokraten zu vertrauen, wäre leichtsinnig. Als die CD aufkam, warb die Industrie mit der "Unvergänglichkeit" der Aufnahmen. Schlecht gepresste CDs sind heute schon unhörbar. Man kann sich nur noch wundern über das Stillschweigen von Wissenschaftsverlagen, Forschern und verantwortungsbewussten Bibliothekaren. Die Google-Piraterie und der "Open-acces"-Schwindel sind gefährlicher als die Piraterie entlang der somalischen Küste.
Diskutieren Sie mit! Auf dem tazkongress am 18./19. April in Berlin sprechen Helge Malchow, Geschäftsführer des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch und taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals über "Google, Kindle und das gute alte Buch".
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