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Archiv-Artikel

Mystische Stimmungen

Vor über einhundert Jahren wurde in der Nähe Bremens, im Dorf Worpswede, eine Künstlerkolonie gegründet. Angetan waren die Maler vor allem von dem besonderen Licht des Orts, während das benachbarte Teufelsmoor oft nebelverhangen ist

VON HARTMUT GRÄFENHAHN

Worpswede? Der Name dürfte zumindest Kunstinteressierten auf der Zunge zergehen. Untrennbar damit verbunden sind die Namen solch berühmter Maler wie Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler, Fritz Overbeck, Otto Modersohn und nicht zuletzt seine Frau, Paula Modersohn-Becker. Vor über hundert Jahren ließen sich die Kunstakademiemitglieder in dem armen Moordorf bei Bremen nieder, angetan von Land, Leuten und von etwas scheinbar Banalem, dem Licht. Vor allem im Frühjahr und im Herbst, wenn die Atmosphäre oft besonders klar ist, stellt sich diese sagenumwobene Lichtstimmung hier an der Grenze zwischen Meeres- und Kontinentalklima ein.

Östlich der Hansestadt Bremen erstreckt sich eine der schönsten Landschaften Norddeutschlands, das – mit einer Ausnahme – platt wie eine Flunder ist. Die Ausnahme ist ein 54 Meter hoher Hügel am Rand von Worpswede, der Weyerberg. Eine buchstäblich herausragende Erscheinung. Das waldarme Gebiet erlaubt es hier dem Auge, in die Ferne zu schweifen. Es ist eine Gegend, die auch in der kühleren Jahreszeit am schönsten mit dem Rad zu erkunden ist – auf den Spuren der Worpsweder Maler. Dabei bieten sich Bremen und Worpswede gleichermaßen als Ausgangs- und Stützpunkt für Ausflüge an.

Die Attraktivität Worpswedes liegt weniger im Ortsbild, das heute recht inhomogen ist. Ausnahmen bilden da nur die Museen, die Villa Fritz Mackensens und der Barkenhoff, jenes Gebäude, das auf dem weltberühmten Gemälde „Sommerabend auf dem Barkenhoff“, auf dem Heinrich Vogler sein Haus mit einer musizierenden Gesellschaft abbildete. Den Dichter und Schriftsteller Rilke inspirierte das Anwesen zu dem Hausspruch: „Licht sei sein Los. Ist der Herr nur das Herz und die Hand des Baus, mit den Linden im Land wird auch sein Haus schattig und groß.“ Heutzutage finden im Barkenhoff Ausstellungen und Künstlerseminare statt. Zweifellos liegt der Reiz des Künstlerdorfs in den zahlreichen Kunstmuseen und -galerien. Viele der Werke der Künstlerkoloniegründer werden in der Worpsweder Kunsthalle und der Großen Kunstschau Worpswede der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Gründung der Künstlerkolonie Worpswede zog und zieht immer noch Künstler jedweder Couleur aus aller Welt an. Dabei gewinnt auch die Fotografie eine zunehmende Bedeutung. Bekannt wurde der Schweizer Fotograf Jürg Andermatt mit seinen Buchpublikationen „Das Teufelsmoor“ und „Milchstraße“. In seinen Fotografien lichtet er meisterhaft die mystischen Nebelstimmungen ab. Der Ort ist aber nicht nur Heimat namhafter Künstler, sondern bietet auch dem Laien ein vielfältiges Kunstkursangebot an: Malerei, Fotografie, Steinhauerei, Weberei, Töpferei und vieles mehr.

Nach den Museums- und Galeriebesuchen lassen sich die Eindrücke der Altmeister bei den Erkundungen durch das nahe Teufelsmoor nachempfinden. Birkenalleen durchziehen das flache Land und meist finden sich gut befahrbare Radwege an den Straßen. Heute weitgehend kultiviert, hat das Moor nichts Teuflisches mehr an sich. Doch es bleibt geheimnisvoll, gerade an Nebeltagen im Herbst und Winter. Obwohl überwiegend viehwirtschaftlich genutzt, haben sich dennoch einige Naturoasen erhalten. Die Orte, wo vor hundert Jahren Torf gestochen wurde, der den Städtern seinerzeit als Brennmaterial diente, sind an wenigen, leider nicht immer zugänglichen Stellen noch zu erahnen.

Der Betrachter ist dabei hin- und hergerissen. Auf der einen Seite ist da der massive, zerstörerische Eingriff in die Natur durch den Torfstich, andererseits drängt sich der Eindruck einer gewissen Romantik auf, wie man sie in den Bildern der Worpsweder Maler gesehen hat. Eine Romantik, die für die einfachen Bewohner des Teufelmoors mit einem harten Alltag verbunden war. Die Feuchtigkeit und die bittere Armut waren ein fruchtbarer Boden für die Tuberkulose.

Abtransportiert wurde der Torf damals auf den so genannten Torfkähnen. Zahlreiche historische Fotografien und Gemälde zeigen diese Transportschiffe als Motiv. Außerdem wurde das Brennmaterial per Schmalspurbahn nach Bremen gebracht. Der Radfahrer kann an einigen Stellen noch die alten Gleise sehen, denn der kleine Bahndamm ist heute teilweise als Radwanderweg ausgebaut und führt vom Teufelsmoor über Lilienthal bis nach Bremen. Nahe der Ortschaft Teufelsmoor ist ein Exemplar dieser Bahn auf einem Parkplatz ausgestellt.

Über Lilienthal führt auch der Weg in die künstlerische Zweigstelle Worpswedes, dem Wümmedorf Fischerhude. Kultureller Höhepunkt in diesem außerordentlich schmucken Dorf ist das Otto-Modersohn-Museum in einem Fachwerkhaus. Hier findet man den künstlerischen und schriftlichen Nachlass des Worpsweder Pioniers. Den Besuch Fischerhudes kann der Radwanderer hervorragend mit einer Tour entlang des Flusses Wümme kombinieren.

Am östlichen Rand der Hansestadt schlängelt sich die Wümme, ein kleiner Fluss, der in der Lüneburger Heide entspringt, durch das flache Land, bis er über die Lesum in die Weser mündet. Keine Begradigung des Flussbetts beschleunigt den Abfluss, und in der kalten Jahreszeit werden die Deichschleusen geöffnet, damit die Wiesen überschwemmt werden – eine traditionelle Art, Nährstoffe aufzubringen – für Radtourenfahrer und Spaziergänger eine Augenweide. Die Nähe zum Meer macht sich an der Wümme dadurch bemerkbar, dass sich der Wasserstand der Ebbe und Flut anpasst. Der besondere Reiz für Radler liegt in der urwüchsigen Naturbelassenheit, den lieblichen, reetdachgedeckten Fachwerkbauernhäusern und vor allem an den fahrradfreundlichen Deichwegen beidseits des Flusses, von dem aus die herrliche Landschaft beobachtet werden kann.

Fischreiher und – im Sommer – Störche kreuzen mit ihrer Flugbahn oft den Weg. Viele Stellen laden zum Verweilen. In der Ferne schimmert die Silhouette Bremens mit seiner sehenswerten Innenstadt. Und sollte der Magen knurren, kann man in den Gaststätten und Restaurants auf dem Deich einkehren. Vor allem Liebhaber von Fischgerichten kommen hier auf ihre Kosten. Höhepunkt aller Gaumenfreuden ist aber zweifellos ein abendlicher Besuch im urigen Bremer Ratskeller am historischen Marktplatz, wo man auch unbedingt einen Blick in die Karte der Ratskellerweine werfen sollte.