: Mutprobe Elektrozaun
■ Premiere im TiK: Auf den Spuren der „Kinder vom Bullenhuser Damm“
Sieben Frauen auf einer Wanderung. Sie machen eine letzte Rast, bevor sie auseinandergehen wollen. Durch Zufall entdecken sie in einem Stapel Kisten Akten, die die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm enthalten. 20 jüdische Kinder waren am 20. April 1945 in einer ausgebombten Schule ermordet worden, um die Spuren der grausamen Experimente des SS-Arztes Kurt Heißmeyer an ihnen auzulöschen. Die Frauen lesen in den Akten, erinnern sich an ihre Kindheit. Das ist der Rahmen, in dem sich sieben Hamburger Frauen, die im April 1945 so alt waren wie die ermordeten Kinder, den unfaßbaren Geschehnissen annähern.
Gemeinsam mit dem Leiter des Thalia Treffpunkts, Herbert Enge, erarbeiteten die Frauen dieses Stück, das am Donnerstag im TiK Premiere hatte. Entstanden ist eine Textcollage aus Briefen der für die Experimente Verantwortlichen SS-Stellen, Vernehmungsprotokollen aus der Nachkriegszeit, Texten und Gedichten von Kindern in Konzentrationslagern sowie Liedern und Spielen von damals. Im ersten Teil setzen die Darstellerinnen sich mit der Geschichte der Mörder auseinander und nähern sich den eigenen Kindheitserfahrungen. „Was jüdische Kinder von 1939 bis 1945 alles nicht durften“, diese bedrückende Liste von Verboten wendet den Blick auf den Alltag der Kinder in der Versuchsbaracke von Neuengamme. Was haben sie wohl gespielt? Vielleicht das Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ oder „Mutprobe am Elektrozaun“.
Die Frauen, alle keine professionellen Schauspielerinnen, wirkten sehr präsent und ließen sich auch durch einige geräuschvolle junge Menschen nicht aus der Ruhe bringen. Obwohl alle ähnlich gekleidet – schwarzer Rock, weißes Hemd – blieben sie als Individuen deutlich erkennbar. Die Individualität der dargestellten Personen wurde dagegen nur durch Worte, aber nicht über Mimik und Gestik charakterisiert, wodurch oft unklar blieb, wessen Worte die Schauspielerinnen sprachen. Leider wurde auch die Haltung der wandernden Frauen, die die Akten finden, nicht plastisch. Erschrecken und Abscheu nahmen nicht sichtbar zu mit der wachsenden Kenntnis über die an den Kindern begangenen Greuel. Iris Schneider
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