Mutmaßlicher Giftgaseinsatz Syrien: Gefakte Indizien, schlüssige Beweise
Das Warten auf Beweise, wer für den Giftgaseinsatz in Syrien verantwortlich ist, geht weiter. Und die Propaganda um die Deutungshoheit auch.
Am frühen Morgen des 21. August begannen in den sozialen Netzwerken schreckliche Videos aus Vororten von Damaskus aufzutauchen: Männer, Frauen und Kinder waren darauf zu sehen, im Todeskampf oder schon tot, ohne äußere Verletzungen. Alles deutete darauf hin, dass im syrischen Bürgerkrieg eine neue Qualitätsstufe erreicht war: Zum ersten mal war Giftgas im großen Stil eingesetzt worden, suggerierten die Bilder, die insbesondere von Aktivisten und Medien der syrischen Opposition verbreitet wurden.
Seither tobt eine Propagandaschlacht um die Frage, wer für den Einsatz, den kaum noch jemand bestreitet, verantwortlich ist. Einen Tag zuvor waren UN-Inspektoren ins Land gekommen, ihr Hotel in Damaskus befand sich nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Eigentlich hatten sie jene Vorfälle aus dem April untersuchen sollen, als es Berichte über mutmaßliche kleinere Giftgaseinsätze an verschiedenen Orten des Landes gegeben hatte.
Lang hatte die syrische Regierung den Inspektoren den Zutritt zum Land verweigert, nun waren sie da. Konnte das Assad-Regime wirklich so dumm sein, direkt vor deren Augen den größten Giftgaseinsatz des Krieges anzuordnen? Hatte doch US-Präsident Barack Obama, der offenkundig überhaupt keine Lust verspürte, in Syrien militärisch einzugreifen, vor Jahresfrist verkündet, der Einsatz von Chemiewaffen würde alles ändern.
Seit Wochen waren die Regierungstruppen auf dem Vormarsch, hatten von den Rebellen Stellungen zurückerobert. Das einzige, was Assad ernsthaft in Gefahr bringen könnte, war ein internationales Eingreifen. Und genau das sollte er riskieren, indem er vor den Augen der Inspektoren Hunderte Zivilisten mit Nervengas umbrachte?
„False-Flag-Operation“
Undenkbar, sagen die einen, das kann nur eine „False-Flag-Operation“ von Assad-Gegnern sein, um eine internationale Reaktion zu provozieren. Verzweifelt über das Nichteingreifen des Westens hätten sie Giftgas in ihrem eigenen Gebiet eingesetzt, um das Assad in die Schuhe zu schieben und die USA zum Eingreifen zu bringen.
Aber sicher macht Assad das, sagen die anderen. Assad sei sich sehr gewiss, dass die kriegsmüden USA nichts unternehmen werden – erst wenige Tage zuvor hatte die ägyptische Armee Hunderte Muslimbrüder umbringen dürfen, ohne dass der Westen irgendwie eingegriffen hätte – und Assad nutze sein gesamtes Arsenal, um den Rebellen zu zeigen, dass sie keine Chance haben. Sicher, das ist hoch gepokert, aber wenn er in diesem Fall gewinnt, dann hat er endgültig nichts mehr zu befürchten und kann ganz in Ruhe Stück für Stück die Opposition vernichten.
Das sind die beiden Narrative, und darum, sie zu be- oder widerlegen, dreht der Streit um die Beweise. Im Hintergrund: Die Erfahrung des Irakkrieges vor zehn Jahren, als die damalige US-Regierung mit scheinbar großer Überzeugung den Krieg damit begründete, der Irak verfüge über gewaltige Arsenale von Massenvernichtungswaffen – was von vorn bis hinten gelogen war. Spätestens seitdem vertraut niemand mehr per se US-Geheimdienstinformationen, spätestens seitdem halten selbst abgeklärte Leute es für denkbar, mit gefakten Indizien zu tun zu haben.
Und im Netz kursierten schnell auch „Beweise“ dafür, dass die Videos gefakt seien, wie immer. Zuletzt gab es diesen Sturm beim Attentat von Boston, als Hunderte von Bloggern nachweisen wollten, dass es da gar keine Verletzten und Toten gegeben habe, sondern nur Schauspieler und Filmblut.
Schutt und Asche
Aber kann es eigentlich eine schlüssige, unbezweifelbare Beweiskette geben? Wie sollten solche Beweise eigentlich aussehen und wer könnte sie, über allen Zweifel erhalben, eigentlich zusammentragen? Die UN-Inspekteure sicher nicht. Sie haben nur das Mandat herauszufinden, ob überhaupt Giftgas eingesetzt worden ist. Als sie fünf Tage nach dem Angriff endlich vorort mit der Arbeit beginnen konnten, hatten Assads Truppen die betroffenen Ortschaften durch mehrtägigen konventionellen Artilleriebeschuss gründlich in Schutt und Asche gelegt. Sarin, wenn es denn benutzt worden sein sollte, ist flüchtig und schon schnell nicht mehr nachzuweisen.
Seit Anfang der Woche untersuchen verschiedene Laboratorien die von den Experten eingesammelten Proben; ein aufwändiger Prozess, der mehrere Wochen dauert. Und selbst wenn das Ergebnis eindeutig sein sollte, löst es die Frage nicht, wer die Chemiewaffen eingesetzt hat. Die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA haben sich indes festgelegt und unter Berufung auf Erkenntnisse ihrer Geheimdienste Papiere vorgelegt, in denen die Verantwortung der Assad-Regierung nachgewiesen werden soll.
Kernpunkte: Nur die Regierungstruppen verfügen über das Material und die Trägersysteme, einen Angriff dieser Größenordnung durchzuführen, es gebe Augenzeugenberichte und Satellitenauswertungen, die auf dreitätige Vorbereitung des Angriffes schließen lassen und auf den Abschuss entsprechender ballistischer Raketen aus von der Regierung kontrolliertem Gebiet. Zumal sei Assad frustriert gewesen, weil er trotz permanentem Granatbeschuss und Bombardierungen die Rebellenstellungen in den Vororten von Damaskus, also ihr Einfallstor zur Hauptstadt, nicht habe zerstören können.
Geschichte voller Codenamen
Aber auch die Gegenseite ist nicht faul: Seit Sonntag kursiert im Netz ein von einer US-amerikanischen Zeitung veröffentlichter Text der ehemaligen AP-Reporterin Dale Gavlak und eines Yahya Ababneh, der als freier jordanischer Journalist vorgestellt wird.
Die Geschichte: Einige – nur mit Codenamen bezeichnete – Rebellen hätten Ababneh in Ghouta, einem der betroffenen Vororte, berichtet, dass Aufständische von der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front, vermittelt durch den saudiarabischen Geheimdienstchef Prinz Bandar bin Sultan an Chemiewaffen gekommen seien. Diese hätten sie dann in einem der Tunnel unter Ghouta gelagert aber durch falschen Umgang versehentlich zur Explosion gebracht, was dann die Katastrophe vom Mittwoch verursacht habe.
Die Nachricht wurde begierig aufgenommen, zudem Reporterin Dale Gavlak einen guten Ruf als Nahostkorrespondentin genießt. Doch Experten zweifeln an der Darstellung. Zwar ist es kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien die Assadgegner unterstützt, wenngleich eigentlich gerade nicht Al-Nusra. Andererseits ist noch nie irgendwo auch nur angedeutet worden, dass die Saudis über Chemiewaffen verfügen würden.
Und: Die versehentlich ausgelöste Explosion einiger Giftgasflaschen in einem Tunnel, sagen Experten, könne niemals eine solche Ausdehnung mit tausenden von Verletzten erzeugen wie der Angriff vom Mittwoch. Eine Ente also?
Assads Nerven
Unterdessen hat sich auch der Bundesnachrichtendienst eingemischt: Laut Spiegel Online hat der BND ein Telefongespräch eines Hisbullah-Führers mit der iranischen Botschaft abgefangen, in dem der Hisbullahführer berichtet, der bedrängte Assad habe die Nerven verloren und daher den Giftgaseinsatz befohlen. Kann sein. Oder auch nicht. Das Warten auf den hieb- und stichfesten Beweis wird weitergehen, womöglich bis zum Sanktnimmerleinstag.
Die jeweils andere Seite wird weiterhin das Gegenteil behaupten. Und die Öffentlichkeit wird sich zuordnen, je nachdem, welches Narrativ ihr besser gefällt. Unterdessen hat sich das britische Parlament gegen einen Einsatz ausgesprochen, Barack Obama kämpft um eine entsprechende Mehrheit im Kongress, die Stimmen der Skeptiker werden immer lauter. Das, muss man zugeben, hätte für Assad, wenn er es denn war, kaum besser laufen können.
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