: Musterländle China
Als China 1842 durch politischen Druck Englands für den internationalen Handel „geöffnet“ wurde, durften sich Ausländer zunächst nur in Vertragshäfen am Rand bereits existierender chinesischer Städte niederlassen. Nur in vier Fällen haben Europäer eine neue Stadt gegründet: Die Briten erbauten Victoria auf der Insel Hongkong, die Deutschen Tsingtau in der Bucht von Kiautschou und die Russen Dalian und Harbin. Die drei letztgenannten Städte entstanden alle 1898. Das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm hatte den Chinesen den Vertrag für Tsingtau aufgezwungen, um als imperialistischer Nachzügler auch einen Flotten- und Handelsstützpunkt in der Region zu haben. 1914 eroberten die Japaner Tsingtau, die dort bis 1945 herrschten. Heute hat Quingdao (vormals Tsingtau) 7 Millionen Einwohner.
In seinem Bestseller „Progress and Poverty“ (1879) benennt der US-Ökonom Henry George (1839–1897) die „Bodenrente“ als Ursache der Armut inmitten wirtschaftlich prosperierender Gesellschaften. George forderte eine vollständige steuerliche Abschöpfung der Bodenrente durch den Staat, die alle weiteren Steuern überflüssig mache (single tax). In ähnliche Richtung engagierten sich auch die 1870 in England gegründete Land Tenure Reform Association, die Freiwirtschaftsbewegung um Sozialreformer Silvio Gesell (1862–1930) und der 1898 gegründete Bund Deutscher Bodenreformer unter Adolf Damaschke (1865–1935).
Wilhelm Schramaier (1859–1926), der als Kaiserlicher Kommissar den Landankauf für die Kolonie Tsingtau tätigte, erarbeitete mit der „Tsingtauer Landordnung“ ohne Kenntnis der Bodenreformer eine kongeniale Steuerordnung: „Zum ersten Mal in der Welt wurde eine Besteuerung des zukünftigen unverdienten Bodenwertzuwachses gesetzlich eingeführt“, so Wilhelm Matzat. Ohne die Idee des Privateigentums in Frage zu stellen, wurden gesetzliche Regelungen getroffen, „welche die öffentlichen Interessen sichern und verhindern sollten, dass der Grund und Boden durch spekulative Geschäftspraxis künstlich verteuert und damit den neu hinzuziehenden Europäern und Chinesen von vornherein die Lebenshaltung erschwert wurde“.
Bei der Etatberatung über Tsingtau im Reichstag am 31. Januar 1899 stimmten in einmaliger Übereinstimmung alle bürgerlichen Parteien dem Entwurf zu, nur die SPD lehnte ihn ab. Ihre Redner, Karl Liebknecht und August Bebel, waren schlecht vorbereitet in die Debatte gegangen. Daraus ergab sich die bizarre Situation, dass Bebel als Einziger die Interessen der Geschäftsleute vertrat. Ein Lapsus, den der Bodenreformer Damaschke zu einer sarkastischen Polemik nutzte: „Dass gewisse Leute [Kaufleute; Anmerkung der Red.] warten mussten, bis sie einen Bauplatz bekamen, das schmerzt die deutsche Arbeiterklasse!“ Für den Bund der Bodenreformer war die Landordnung von Tsingtau ein Geschenk des Himmels, zeigte sie doch, dass die Ideen des Bundes in der Praxis tatsächlich „funktionierten“.
1908 verließ Schrameier Tsingtau und kehrte nach Deutschland zurück, wo er sich ganz in den Dienst des Bundes stellte. Von dem chinesischen Reformpolitiker Sun Yat-sen, der das deutsche Experiment Tsingtau bewunderte, wurde er 1924 eingeladen, als sein Berater nach Kanton zu kommen. Nach nur kurzer Zusammenarbeit starb Sun Yat-sen 1925 überraschend. Für seinen Sohn, den Oberbürgermeister von Kanton, arbeitete Schrameier noch ein Bodensteuergesetz für die Stadt Kanton aus, bevor auch er 1926 wenige Tage nach dessen Fertigstellung an den Folgen eines Rikscha-Unfalls starb. NIKE BREYER