Musikfestival in Frankreich: Der Sound des Prekären
Musik hören und über das französische Kulturprekariat diskutieren: Zum 36. Mal traf man sich in Rennes zu den Rencontres Trans Musicales.
Das Ploppen ist nicht zu überhören, dann werden die kleinen grünen Flaschen angesetzt und in ein, zwei Zügen geleert, als wär’s Zaubertrank. Wir befinden uns in einem langgezogenen Gelenkbus in Rennes. Er transportiert Zuschauer vom Zentrum der bretonischen Stadt in 20 Minuten zum Messegelände Expo, wo ein Großteil der 36. Ausgabe des Festivals Rencontres Trans Musicales stattfindet.
Manch einer stillt den Bierdurst bereits unterwegs. Es ist eine Art Teilzeit-Ausklinken, was in den vier Tagen des Festivals toleriert wird. Rennes hat den größten Anteil junger Menschen in Frankreich: 62 Prozent seiner Einwohner sind jünger als 40 Jahre. In der Stadt gehen 62.000 Studenten ihrer akademischen Ausbildung nach, mehr als 100.000 junge Beschäftigte sind in der Computerindustrie und Nahrungsmittelbranche, beides große Arbeitgeber am Ort, tätig.
Dazu kommen nun Festivaltouristen aus allen Landesteilen. So, dass allabendlich 20.000 bis 30.000 Feierwütige die Straßen und die Bars der Stadt bevölkern und mit durchaus britischer Anmutung feiern. Die Polizei ist mit Mannschaftswagen der Sondereinheit CRS stets dabei. Auf Binge-Drinking ist man beim Trans Musicales eingestellt. An der Endhaltestelle, bevor die Busse ihre Fahrgäste aufs Festivalgelände ausspucken, warten Müllcontainer, in die leere Bier- und Schnapsflaschen geworfen werden. Securitys geleiten die Gäste in die eingezäunten Kanäle.
Auf dem Messegelände finden Konzerte in riesigen Hallen statt. Auf vier Bühnen gleichzeitig spielen an drei langen Nächten Bands und Künstler, die der Festival-Impresario Jean-Louis Brossard, der Trans Musicales zusammen mit seiner Frau Béatrice Macé leitet, zum Teil persönlich ausgewählt hat. Er lässt es sich auch nicht nehmen, die Bands am Donnerstagabend selbst anzukündigen. Aus dem Publikum erschallen daraufhin „Jean-Louis“-Rufe.
Bands aus aller Welt
Als der afroamerikanische Sänger und Gitarrist Curtis Harding am Donnerstagabend gegen 22.30 Uhr mit seiner Band die Bühne betritt, wird deutlich, wie Brossard seine Acts aussucht. Es sind meist junge Künstler am Beginn ihrer Karriere oder Bands abseits des gängigen Festival-Mainstreams. Man kann hier Bands aus allen Ecken der Welt entdecken. Allerdings spielen sie in Rennes vor großer Kulisse. Das hat seinen eigenen Reiz.
Harding und seine vierköpfige Band wirken scheinbar unbeeindruckt. Sie haben sich punkigen R & B auf die Fahnen geschrieben, Sixties Gospel Yeh-Yeh und psychedelische Melodiemuster klingen an, Hardings sonore Stimme, sein regungsloses, hinter einer Sonnenbrille verborgenes Gesicht steigert die Coolness des Vortrags immens; die Retrohaftigkeit wirkt nie gestelzt, „Soulpower“ (so heißt sein Debütalbum) wird abwechslungsreich durchdekliniert. Und vergegenwärtigt damit eine längst vergangene Geschichte durchaus stilvoll.
Hot Topic des Abends
In einer anderen Halle tritt wenig später die Zukunft des britischen HipHop auf. Die junge Rapperin Kate Tempest. Im Sommer hat sie ihr hoch gelobtes Debütalbum veröffentlicht und gerade ihre erste Europatournee absolviert, zum Abschluss gastiert sie nun mit ihrem Spoken-Word-Poetry-Vortrag. Dieser sowie das ungelenke elektronische Klangbett ihrer Musikerkollegen wird als hot topic gehandelt.
Tempests Wortschwall ist beeindruckend, sie reimt regelrecht verschachtelte Kurzgeschichten. Die elektrischen Drumbeats, live gespielt von zwei Schlagzeugern an Syndrums und einem Musiker an Synthesizer und Sequenzer klingen angestrengt, aber immer treibend. Nur vermisst man bei Tempest noch etwas das Interplay und die Kunst, Pausen zu lassen. Sie soliert zu viel und gesteht ihrer Rapper-Kollegin zu wenig Raum für eigene Reime zu. Mittlerweile sind die Zuschauer reichlich angetrunken, Sanitäter und mobile Präventionsteams werden auf Trab gehalten.
Wir haben Zukunftsangst, erklärt Maryline Chasles die Stimmung in Rennes. Sie arbeitet bei der Lobbyorganisation Collectif des festivals und kümmert sich um die Vernetzung der Kreativen. Als die Organisation 2005 begann, gab es 6 Festivals, nun gibt es bereits 26 Festivals in der Region. Die Obergrenze sei erreicht, wenngleich die regionalen Politiker die Wirtschaftskraft der Festivals längst erkannt haben und für ihre Zwecke nutzen. Dass ein Großevent wie Trans Musicales überhaupt funktioniert, dafür sorgen in hohem Maße die sogenannten Intermittents de spectacles. Teilzeitbeschäftige Prekäre der Kulturindustrie: Künstler, Techniker, Grafiker.
20.745 Arbeitsstunden
Weil es in der französischen Kulturszene abseits von Paris kaum Subventionen gibt, wird – gleich, ob beim Theaterfestival in Avignon oder eben in Rennes – häufig mit Intermittents gearbeitet. Gleich auf der ersten Seite des Festivalprogramms bekundet Trans Musicales seinen Intermittents Solidarität und stellt eine Rechnung auf: Für die Planung und Durchführung der 146 Konzerte und Veranstaltungen fallen 20.745 Arbeitsstunden an. Dafür hat das Festival mit seinen freien Mitarbeitern befristete Werkverträge abgeschlossen.
Das ist wichtig, denn bislang konnten die Intermittents in Frankreich dafür im Folgejahr bei Beschäftigungsflauten „Kompensationszahlungen“ aus der Arbeitslosenversicherung erwarten. Wer etwa mehr als 507 Arbeitsstunden jährlich vorweisen konnte, hatte im Jahr darauf Anrecht auf zwölfmonatige Unterstützung.
Diese Absicherung kostet die Franzosen inzwischen 320 Millionen Euro pro Jahr. Konservative Kreise und der Rechnungshof verlangen die Auflösung dieses seit 1936 bestehenden Systems und prangern eine Kostenexplosion an. Die Regierung Hollande sieht hier ebenfalls Reformbedarf, der von den Intermittents selbst gar nicht in Abrede gestellt wird.
Öffentliche Debatte
Auch beim Trans-Musicales-Festival findet am Freitagnachmittag eine öffentliche Debatte statt. Das Publikumsinteresse ist groß. Jung und Alt hören zu, wie auf dem Podium Bevollmächtigte des CIP (Collectif Intermittent + Précaires) ihren Status erklären. Die Intermittent-Expertin, die Soziologin Chloé Langeard (Universität Angers), erzählt später im Gespräch, dass die Kultur in Frankreich immerhin für 3 Prozent des Bruttosozialprodukts sorgt. Doch es gebe dafür viel zu wenig Gegenleistung. Intermittents erhalten im Alter eine durchschnittliche Pension von 400 Euro. Zudem verdienen Frauen weit weniger als Männer.
2014 war die französische Kulturpolitik geprägt von der Debatte über die circa 130.000 Intermittents im Land. Seit Anfang Juli erhalten sie geringere „Kompensationszahlungen“, was sich wiederum direkt auf die Kultur auswirken wird. Aus Protest gegen den Sparkurs der Regierung legte etwa Kulturministerin Aurélie Filippetti im August ihren Posten nieder.
Abhängen vor der Twitter-Wall
Beim Festival Trans Musicales ist Musik auch nur Teilzeitbeschäftigung: Junge Leute schauen sich auf einer Leinwand mit wechselnden Kulissen stundenlang beim Tanzen zu. Überhaupt stehen Social-Media-Angebote auf dem Festivalgelände in Konkurrenz zum Musikprogramm: Viele Leute hängen vor „Le Twitter Wall“ auf Sofas und Kissen ab und verfolgen lieber den Twitterverkehr. In den Konzerthallen selbst werden keine Getränke ausgeschenkt, sodass in den Schenken manchmal mehr los ist als vor der Bühne.
In der Freitagnacht gibt es bemerkenswerte Auftritte. Das Quintett Metá Metá aus São Paulo etwa mischt kratzbürstigen Postpunk mit der klanglichen und rhythmischen Vielfalt des brasilianischen Folk und hat auf diese Weise mitreißende Hybriden ersonnen. Am frühen Samstagabend ist eine ähnlich eigenwillige Mischung aus moderner elektronischer Klangerzeugung und archaischen Musiktraditionen zu bestaunen. Chancha Via Circuito, ein Quartett aus Buenos Aires, mischt indigenen Folk, etwa einfachste Tamburinschläge, Chanten und Handglockensounds, mit dem Bratzen und Wummern aus einem Laptop und sorgt für hypnotische Symbiose.
Noch beseelter wird es Samstagnacht gegen elf, als der südafrikanische Jazzdrummer Tumi Mogorosi mit seinem Tentett auftritt. Ein vierköpfiger Chor, drei Blechbläser und eine Rhythmussektion begleiten ihn. Der Chor setzt seine Stimmen als Instrumente ein. „This music needs to be played loud, for evocation of emotions“ steht auf der Leinwand hinter der Bühne. Hier geht es noch um was. Wie die Musiker aus Johannesburg ihre Spiritualität in der Tradition von Duke Ellington und John Coltrane mit der Bezugnahme auf die jüngste südafrikanische Geschichte zusammendenken, hat etwas Funkensprühendes. Und zeugt von einer anderen Art von Prekarität.
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