Musikalische Jahresrückschau: Kein Bling-Bling, kein Populismus
Von Guns N' Roses bis "Blind": Rückblick auf ein Jahr voll schöner Musik und Mikrotrends, aber ohne Mastererzählung.
Was nicht ist, kann auch nicht mehr werden. Man muss schon eine Weile nachdenken, um den richtigen Begriff für "Chinese Democracy" zu finden, das nach fünfzehn Jahren erschienene Album von Guns N' Roses. Denn "misslungen" ist es eigentlich nicht, das würde davon ausgehen, dass es überhaupt hätte gelingen können. Auch "medioker" trifft es nicht, denn wo so hoch fliegende Ambitionen im Spiel waren wie bei dieser Platte, ist jedes Scheitern mehr als nur mittelmäßig. "Unhörbar" ist sie wahrscheinlich am ehesten.
Wobei dies auch ein Lob ist. Denn so schwer es einem fallen konnte, beim Hören durchzuhalten: Man muss anerkennen, dass "Chinese Democracy" auch ein Denkmal dafür ist, wie man sich in der Zeit, als noch eine Plattenindustrie da war, ein Meisterwerk vorstellte. Musikalisch: ganz großes Rocktheater, Orchester, Bläsersätze, Gesang aus dem Jenseits. Organisatorisch: Millionen von Dollar für zahllose Studios ausgeben. Literarisch: ein Booklet, in dem sich die Musikerangaben lesen wie die Besetzungsliste einer großen Hollywood-Produktion (mindestens fünf Gitarristen bei jedem Stück! Sechs namentlich aufgeführte "Protools-Assistenten"!). Symbolisch: Die ganze Idee, dass der grenzwahnsinnige Künstler sich in der Mitte des mittigsten Mainstreams voller Hass auf alle austoben kann, die ihm diese Position ermöglichen (er selbst, die Plattenfirmen, die Fans). Wirtschaftlich: "Chinese Democracy" gibt es wahrscheinlich nur, weil die Plattenfirma davon ausging, dass es schlicht billiger ist, Axl Rose weiter zu finanzieren, um das mit den Verkäufen zumindest zum Teil wieder reinzuholen, als ihn einfach nur zu feuern. Funksignale aus einem versunkenen Zeitalter.
Nächstes Jahr wird alles anders. Den großen popkulturellen Trend suchte man im vergangenen Jahr vergeblich. Hiphop erfand sich nicht neu, die große subkulturelle Erzählung mit Mainstream-Option tat sich nicht auf. Die Zersplitterung ging schlicht weiter. Eines deutete sich allerdings an: Bling-Bling ist am Ende. Denn wenn es in den vergangenen fünfzehn Jahren eines gab, das sich durch fast alle Spielarten schwarzer Musik zog, dann war das die Feier des Reichtums. Juwelen, dicke Autos, große Villen, Champagner, Goldzähne. Das wurde oft kulturkritisch gelesen und als Zurschaustellung des erreichten sozialen Status vormals armer Innenstadtbewohner erklärt. Das war es sicher auch. Aber eben nur zum Teil. Dass sich die ganze US-amerikanische Gesellschaft in der Figur des Gangstas wiederfinden konnte und dass man sich Vermögen als etwas vorstellte, das schnell gewonnen und schnell wieder ausgegeben wird, war Teil eines Systems, das mit der Weltfinanzkrise zusammengekracht ist.
Die Clubs übernehmen die Dance Music. Zwei Dinge fielen auf, wenn man die Entwicklung der Dance Music verfolgt: Da war zum einen die Rückkehr der deepen Spielart von House. Ob es Preacher Vocals waren, die Rhodes-Piano-Akkorde oder das mittlere Tempo der dicken Bassdrum - die ganze Sprache des House war auf einmal wieder da. Zum anderen: Auch in House und Techno schlug eine Tendenz durch, die den restlichen Musikmarkt schon beherrscht. Die Macht liegt in den Clubs. Die Plattenverkäufe sind stark zurückgegangen, aber die Leute gehen aus wie nie zuvor. Zumindest in Berlin, wo die Clubs brummen, als gäbe es kein Morgen. Das hat auch ästhetische Konsequenzen. Die Techno-Auslegung, für die ein Künstler wie Shed steht etwa (dessen "Sheddings The Past" eines der Alben des Jahres ist, siehe Abbildung), hängt ursächlich mit der Anlage im Berghain zusammen - diese Musik lebt vor allem von den Orten, für die sie gedacht ist. Man muss hingehen, wenn man sie hören will.
Und dann war da noch "Blind". Dieses Jahr bekam seinen Konsenshit schon im März. Hercules & Love Affair hieß die Combo, eine schwul-lesbisch-queere Discogruppe aus New York mit Antony Hegarty als Sänger.
"Blind" war nicht der einzige Hit dieser Bauart. Da gab es das belgische Produzentenduo Aeroplane, die "Whispers" in die Welt entließen, die New Yorker The Juan McLean mit "Happy House" oder die Londoner Hot Chip und "Ready For The Floor". Das, was House durch seine zunehmende Strenge verlor, so kam es einem manchmal vor, floss umstandslos in dieses neue Dancepop-Genre.
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