: Murmansk sitzt auf atomarem Pulverfaß
■ Angst und Proteste der Bevölkerung gegen die geplanten Atombombenversuche auf Nowaja-Semlija / Ganz Europa ist bedroht / Eine Bürgerinitiative sammelt Unterschriften / Hoffen auf Jelzin und auf internationale Proteste
Aus Murmansk Reinhard Wolff
„Hier liegen zwei oder vielleicht auch drei sowjetische Atom -U-Boote auf dem Meeresgrund und rosten langsam vor sich hin. Und hier, auf der anderen Seite des leergefischten Barents-Meers sollen demnächst Atombomben gesprengt werden. Wir in Murmansk liegen 400 Kilometer davon entfernt, und zu euch nach Norwegen ist es nur 100 Kilometer weiter.“ Die große Landkarte an der Wand im Museum von Murmansk soll eigentlich von den Naturreichtümern im nördlichsten Teil der europäischen Sowjetunion künden. Doch Natalie funktioniert nicht nur die Karte, sondern den gesamten Museumsbesuch um.
Natalie ist Studentin und verdient sich im Sommer einige Rubel als Führerin skandinavischer Besuchergruppen durch ihre Heimatstadt. Sie ist aber auch Mitglied einer Gruppe, die gegen die Bedrohung des Lebens hier oben im Norden kämpft - gegen die Vergiftung der Umwelt, gegen die altersschwachen Atomreaktoren und die Atom-Kriegsschiffe im Murmansk-Fjord, vor allem aber gegen die Verlegung der sowjetischen Atombombenversuche von Kasachstan nach Nowaja -Semlija. „Wir freuen uns mit den Leuten in Kasachstan, daß sie es endlich geschafft haben, mit ihren Protesten die Versuche dort zu stoppen. Aber hier wollen wir sie natürlich auch nicht. Nicht hier und auch sonst nirgendwo.“
Was atomare Bedrohung heißt, erleben die Menschen in Murmansk jeden Tag hautnah. Mitten in der Stadt liegen die riesigen atomgetriebenen Eisbrecher am Kai - jetzt im Sommer arbeitslos und mit abgeschaltetem Reaktor. Doch der Sommer ist bald wieder vorbei. „Die Proteste der Bevölkerung haben endlich durchgesetzt, daß die altersschwache 'Lenin‘ ausgemustert wurde, mit der es mehrere Unfälle gegeben haben soll“, sagt Natalie. „Doch es bleibt die 'Rossja‘, auf der im letzten Jahr angeblich wegen menschlichen Versagens ein Reaktorunfall passiert ist und deshalb in Murmansk zum ersten Mal Strahlenalarm ausgelöst worden ist. Es sollen sogar zehn zusätzliche Atomeisbrecher hier stationiert werden.“
165 U-Boote und mindestens ebensoviele Schiffe sollen im Murmansk-Fjord stationiert sein. 10.000 atomare Sprengköpfe lagern in den in die Felsen gesprengten Basen - von Abrüstungsverhandlungen bislang nicht tangiert. Im Gegenteil: Am Morgen haben die norwegischen Rundfunknachrichten von Luftwaffeneinheiten berichtet, die von Osteuropa auf die Kola-Halbinsel verlegt worden seien.
Die Schiffsreise durch den Murmansk-Fjord gibt eine kleine, aber erschreckende Vorstellung von der atomaren Zeitbombe, auf der Natalie und die 580.000 EinwohnerInnen der Stadt sitzen: Allein vier Atom-U-Boote ziehen innerhalb von zwanzig Minuten vorbei, kilometerlang liegen die Kriegsschiffe an den Kais - oft doppelt, dreifach nebeneinander vertäut.
Auch das vor einem Jahr vor der norwegischen Küste in Brand geratene Atom-U-Boot liegt auf einem Dock im Blickwinkel der Kameraobjektive. „Es ist sicher nur die übliche Schlamperei, daß man es so schön sichtbar für alle Touristen, die per Schiff kommen, liegen läßt“, vermutet Natalie. „Aber um so besser, wenn sie euch Skandinavier ständig an die Beinahe -Katastrophe erinnern, an der ihr gerade noch vorbeigeschlittert seid.“
Mit Hilfe der großen Wandkarte verdeutlicht Natalie den skandinavischen BesucherInnen, daß nicht nur die vor der Küste brennenden und im Meer verrostenden U-Boote eine unmittelbare Bedrohung für die skandinavischen Nachbarn darstellen, sondern auch die Atombombenversuche auf Nowaja -Semlija. „Das passiert nicht irgendwo hinten in Sibirien, das geht unmittelbar vor eurer Haustür in die Luft“, sagt sie. „Ganz Nordeuropa wird verstrahlt werden, wenn ein Unfall geschieht; ganz Europa, wenn Nordostwind weht.“
Schon in den fünfziger und sechziger Jahren hat es auf Nowaja-Semlija Atombombenversuche gegeben. Aus praktischen und klimatischen Gründen konzentrierte Moskau dann die Versuche auf das Gelände in der Wüste Kasachstans. Auch wenn die Strahlenmessungen in den sechziger Jahren noch nicht so lückenlos waren, weisen die norwegischen Berichte teilweise erschreckend hohe Zahlen auf. Die Bevölkerung ist darüber nicht einmal ansatzweise informiert worden.
„Wir haben ganz offen in der Stadt Unterschriften sammeln und über die Gefahren informieren können“, erzählt Oleg, ein Student aus Natalies Gruppe. „Auch die Lokalzeitung hat relativ kritisch berichtet. Und das Echo war unerwartet positiv.“ Auf den Straßen habe es lebhafte Diskussionen gegeben. WissenschaftlerInnen und TechnikerInnen haben spontan angeboten, der Anti-Atom-Gruppe zuzuarbeiten. Nach wenigen Tagen schon seien einige hundert Blätter mit Adressen und Unterschriften an Gorbatschow abgeschickt worden. „Das ist jetzt schon sechs Wochen her. Aber wir haben noch keine Antwort erhalten. Ich glaube, die meisten von uns erwarten auch gar keine Antwort mehr. Von diesem Mann erwarten wir gar nichts mehr“, sagt Oleg, ohne Widerspruch zu ernten.
Oleg und die anderen hoffen auf Jelzin: „Wenn Rußland erst seine Souveränität von der Sowjetunion erlangt hat, werden auf Nowaja-Semlija keine Atombomben gesprengt werden.“ Und sie hoffen auf Druck aus dem Ausland. Natalie freut sich, daß in der Besuchergruppe spontan eine Unterschriftensammlung organisiert worden ist. Was hält sie von anderen Aktionsformen? „Über Besetzungs- und Blockadeaktionen haben wir schon nachgedacht. Aber dazu brauchen wir mehr Menschen, die es nicht nur bei einer Unterschrift belassen wollen. Komm in paar Monaten wieder, dann sind wir weiter.“
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