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Mütter lesen

Deutsche Mütter sind anders. Anders etwa als die französischen. Das belegt Barbara Vinken in Die deutsche Mutter – Der lange Schatten eines Mythos. In Deutschland, so behauptet die Sozialwissenschaftlerin, gehen Frauen einen Sonderweg. Sie geben alles auf, sobald sie Mütter werden: Karriere, Privatleben, Autonomie. Derzeit ist Vinkens Studie vergriffen, im Herbst soll im Piper Verlag eine Taschenbuchausgabe erscheinen.

Albrecht Koschorke, Literaturwissenschaftler, erweitert das Thema ins Abendländische. In seiner Untersuchung Die Heilige Familie und ihre Folgen (S. Fischer Verlag) geht er der Mutter-Sohn-Achse nach, so wie sie das Christentum mit ihrer Verbindung von Maria und Jesus vorgab. Mutter und Kind: das drückt Unmittelbarkeit, Hingabe, Zuneigung aus. Dritter im Bunde war der Heilige Geist. Joseph, der Vater, stand immer etwas außen vor. Diese Konfiguration bestimmte laut Koschorke das westliche Denken über die Familie seit Jahrtausenden.

Ein Detail aus Koschorkes Arbeit: Das wiedervereinigte Deutschland hat seine Erinnerungspolitik unter das Zeichen der Mutter-Sohn-Innigkeit gestellt. Ausdrücklich auf Wunsch Helmut Kohls befindet sich in der „Zentralen Gedenkstätte“, der Neuen Wache in Berlin eine Pietà-Figur, die Kopie einer von Käthe Kollwitz geschaffenen Plastik. Damit stellt sich die Gedenkstätte in die Tradition, dass es die Mütter sind, die um die Opfer der Kriege trauern.

Über die „Mamme“, die Figur der jüdischen Mutter, hat die Publizistin Viola Roggenkamp 26 Interviews geführt und in dem Band Tu mir eine Liebe – Meine Mamme (Jüdische Presse) zusammengefasst. So entsteht ein vielschichtiges, gewollt disparates Bild von jüdischen Mutter-Kind-Beziehungen. Interessant: Die Autorin erhielt doppelt so viele Ab- wie Zusagen. Den meisten Angeschriebenen ging das Thema zu nah.

Lohnend ist die Untersuchung Arbeit und Liebe (Suhrkamp) der Philosophieprofessorin Angelika Krebs. Leser, die sich durch diesen Band gearbeitet haben, sind auf jeden Fall für jedes Beziehungsgespräch gerüstet, dreht es sich nun um die Gerechtigkeit beim Abwasch oder den finanziellen Ausgleich bei der Kindererziehung – im Widerspruch zur Idee, dass die Liebe Selbstlosigkeit bedingt.

„Alles, was ich immer loswerden wollte, kommt zurück.“ Das sagt Fe, eine junge Frau in David Wagners Erinnerungsroman Meine nachtblaue Hose, nachdem sie zusammen mit ihrem Freund auf ein paar Tage zu ihren Eltern nach Bonn gefahren ist. David Wagner (Jahrgang 1971) schreibt über eine typische Familienkonstellation der Neunzigerjahre. Die Eltern sind geschieden, die Mutter weiß nichts Rechtes mit dem Alleinleben anzufangen, das Verhältnis der Generation ist geprägt durch halbverdrängte Schuldgefühle und Peinlichkeiten. Das Thema lässt also auch die jüngeren Autoren nicht los.

Zum Schluss eine historische Delikatesse zum Thema. Wolfgang Amadeus Mozart schrieb am 3. Juli 1778 einen Brief an den Familienfreund Abbé Bullinger: „Trauern sie mit mir, mein freünd! – dies war der Trauerigste Tag in meinen leben – dies schreibe ich um 2 Uhr nachts – ich muß es ihnen doch sagen, meine Mutter, Meine liebe Mutter ist nicht mehr! – gott hat sie zu sich berufen […] Er hatte sie mir gegeben, er konnte sie mir auch nehmen. stellen sie sich nur alle meine unruhe, ängsten und sorgen vor die ich diese 14 täge ausgestanden habe – sie starb ohne das sie etwas von sich wuste – löschte aus wie ein licht.“ DRK

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