: Müssen Aids-Kranke zu Hausbesetzern werden?
■ Aids-Politik bei rot-grünem Senat: Hilflos und ohne Konzeption? / Podiumsdiskussion der Berliner Aids-Hilfe erbrachte Wut, Frustration - und Ratlosigkeit / Für 1990 rund 1.000 Neuerkrankungen allein für Berlin prognostiziert / Obdachlosigkeit der Betroffenen ist ein Riesenproblem
Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit: Das sind die Stichworte, die das Ergebnis einer Diskussionsveranstaltung der Berliner Aids-Hilfe zur „Gegenwärtigen und zukünftigen Aids-Situation in Berlin“ vom Sonntag abend kennzeichnen. „Ihr gebt uns nicht, was wir brauchen!“ schrie ein HIV -Positiver in seiner Wut und bedrohte die Podiumsdiskutanten mit einem Taschenmesser. Über Minuten reagierte weder ein Vertreter der Aids-Hilfe noch einer der Zuhörer auf diese sehr direkte Betroffenheit. Diese Hilflosigkeit im Umgang mit Aids fand sich auch auf der Ebene der politischen Diskussion wieder.
Die Vertreter der Senatsgesundheitsverwaltung und der Selbsthilfegruppen waren sich einig, daß die Zahl von Menschen, die an Aids oder dessen Vorstufe Aids-related Complex (ARC) leiden, im kommenden Jahr dramatisch zunehmen wird. „Wir rechnen 1990 mit rund 1.000 Neuerkrankungen an Aids in Berlin“, so Clemens Messing vom Landesinstitut für Tropenmedizin. Damit werden dann soviel Menschen die Aids -Versorgungseinrichtungen neu beanspruchen wie in den vorhergehenden sieben Jahren zwischen 1982 bis 89 insgesamt: Aktuell gibt es in Berlin 861 Menschen mit Aids. Mit 2.000 HIV-infizierten Drogengebrauchern und 20.000 positiven Schwulen rechnet die Verwaltung.
Trotz der Übereinstimmung in der Einschätzung der Situation konnten weder Verwaltung noch die Gruppen schlüssige Konzepte zu ihrer Lösung präsentieren. Die politisch verantwortliche Senatorin Stahmer hatte auf eine persönliche Teilnahme gleich verzichtet und statt dessen ihren Verwaltungsbeamten Messing geschickt. Noch am deutlichsten auf den Punkt brachte Nikolaus Heveker vom Aids-Pflegeverein HIV eV die Probleme: „Wir halten uns im Aids-Bereich im Moment mit Sonderprogrammen über Wasser, was wir angesichts der Probleme in der Krankenversorgung aber brauchen, ist eine angemessene Regelfinanzierung.“ Über ähnliche Probleme bei der täglichen Krankenversorgung berichtete auch der niedergelassene Arzt Dr. Hans-Dieter Heil: „Es fehlt jede Mark für die angemessene Betreuung der Patienten.“ Er führt eine von drei freien Praxen, die den Großteil der HIV -Patienten in Berlin versorgen. Neben diesen Problemen ist vor allem die Verteilung der staatlichen Aids-Gelder Kritikpunkt. Zu sehr nach dem Gießkannenprinzip werde verfahren und nicht an den Schwerpunkten interveniert, so übereinstimmend verschiedene Veranstaltungsteilnehmer. Zum Beispiel im Krankenhausbereich: Während die Aids-Station von Prof. Pohle im Rudolf-Virchow-Krankenhaus mit einer Handvoll Patienten Sondermittel erhält, fehlt es im Auguste-Victoria -Krankenhaus, das von der überwiegenden Zahl der Kranken frequentiert wird, oftmals am Notwendigsten. Gegengesteuert wird hier nur punktuell, so mußte Pohle bei den aktuellen Haushaltsberatungen 80.000 DM abgeben. Für die Unterstützung einer ambulanten und patientenorientierten Versorgung gibt es jedoch keine zusammenhängende Planung. Dr. Heise vom AVK: „Seit Rot-Grün in Berlin regiert, spielt Aids in der Politik eine immer geringere Rolle.“
Schärfstes Problem ist die Obdachlosigkeit oder drohende Obdachlosigkeit vieler Berliner Aids-Kranker. Mit rund zehn Prozent der Betroffenen beziffert die Gesundheitsverwaltung dieses Problem. „Warum kauft der Senat nicht schlicht die benötigten 80 Wohnungen auf dem freien Markt?“ fragte der Kreuzberger Sozialarbeiter Gerhard Schneider, der täglich mit wohnungssuchenden Menschen mit Aids konfrontiert ist. Schließlich habe die Verwaltung von Frau Stahmer in der Aus und Übersiedlerfrage doch auch bewiesen, daß sie zu schnellen und unbürokratischen Lösungen in der Lage sei. Wenn die Konzepte auch fehlten, über eines war man sich einig: die Betroffenen seien gefordert, sich intensiver für ihre Interessen einzusetzen. Und so plante man gleich im Anschluß eine Hausbesetzung, um auf die Wohnungsprobleme hinzuweisen. Besetzt werden soll im Anschluß an den Trauermarsch zum internationalen World-Aids-Tag am Freitag (siehe unten).
Andreas Salmen
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