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Münchhausen-Syndrom by InternetVirtuelle Lügenbarone

Zahlreiche Gesundheitsforen laden dazu ein, mit erfundenen Krankheitsgeschichten Aufmerksamkeit zu erhaschen. Für manch einen wird es zur Sucht.

Aus der Anonymität heraus werden mitleiderhaschende Krankheiten beschrieben. Bild: ap

LONDON taz | "Am Anfang lief es sehr gut. Alle fühlten mit mir. Es war herrlich. Und dann konnte ich nicht mehr aufhören." Sieben Monate lang ließ sich die Philippinerin Jeanette Navarro von den Mitgliedern eines weltweiten Online-Gesundheitsforums wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes trösten. Anfangs blieb die 24-jährige Selbstständige bei der Wahrheit, denn sie leidet tatsächlich an einer seltenen Autoimmunerkrankung.

Eine Krankheit, die sie zur Außenseiterin macht. Die fehlenden realen Freundschaften versuchte sie durch virtuelle Beziehungen zu ersetzen. Bis zu einem gewissen Grad gelang ihr das auch: Eine Zeit lang fand sie in den Mitgliedern des Onlineforums willige Zuhörer.

Aber sie lebte in ständiger Angst, die Aufmerksamkeit der Gruppe wieder zu verlieren. Also mussten immer dramatischere Auswüchse ihrer Symptome her - alle erfunden. Als das nicht mehr ausreichte, legte sich Navarro diverse Alter Egos zu: "Ich postete unter einem anderen Namen", erinnert sich die 24-Jährige "und berichtete dem Forum, ich sei in ein Koma gefallen."

Schließlich verbrachte die Philippinerin bis zu 15 Stunden online und beantwortete bis zu 50 E-Mails von anderen Gruppenmitgliedern - täglich.

Sie legte sich insgesamt fünf verschiedene Identitäten zu, von denen zwei einen "dramatischen" Tod starben. Der Schwindel flog schließlich auf, weil die von Gewissensbissen geplagte Frau es nicht mehr aushielt: Sie beichtete den 200 Forumsmitgliedern die Wahrheit.

Jeanette Navarro leidet an einer Spielart des Münchhausen-Syndroms, dem sogenannten Münchhausen-by-Internet-Syndrom. Ersteres ist eine Persönlichkeitsstörung, bei der Patienten in Anlehnung an den berühmten Lügenbaron körperliche Beschwerden erfinden und diese versuchen so realistisch wie möglich vorzutäuschen.

Münchhausen by Internet bedeutet nichts anderes, als dass die Lügenfantasien in die endlosen Weiten des World Wide Web übertragen werden. Die explosionsartige Vermehrung von Gesundheitswebseiten im Internet machts möglich: Die meisten dieser Internetseiten bieten ihren Benutzern die Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch in Foren an.

Natürlich ist es ein leichtes, dort Krankheiten vorzutäuschen und sich von anderen Gruppenmitgliedern bemitleiden zu lassen. Aber warum sollte jemand so etwas tun?

Aufmerksamkeit und Mitgefühl

Der Amerikaner Marc Feldmann, Professor für Psychiatrie an der Universität von Alabama, prägte als Erster den Begriff "Münchhausen by Internet". Der Psychiater erklärt die Motivation für das Verhalten der "virtuellen Lügenbarone" so: "Es geht dem Patienten nicht um finanziellen Nutzen oder Ähnliches, sondern er will Liebe, Sympathie und Mitgefühl wecken, die er nicht auf dem üblichen Weg bekommen kann. Die Anteilnahme der anderen Forumsmitglieder ist oft ein Grund, weiterzumachen.

Der Patient will andere kontrollieren, weil er glaubt, er könne auf diese Weise sein eigenes Leben kontrollieren. Häufig versuchen die Erkrankten die Fürsorge und Unterstützung zu bekommen, die ihnen in der Kindheit gefehlt haben."

Meist treten die "Lügenbarone" auf dieselbe Art und Weise in Erscheinung: Ein Internetforum für Menschen, die an einer bestimmten Krankheit leiden, wird von einem Neuankömmling besucht, der angeblich auch erkrankt ist. Seine Symptome sind allerdings sehr dramatisch, möglicherweise schwebt er sogar in Lebensgefahr.

Dieser Umstand hält ihn aber keineswegs davon ab, sehr lange Postings zu schreiben, in denen er seine Situation haargenau beschreibt. Wenn das Interesse der anderen Teilnehmer nachlässt, erfindet er neue Krisenszenarios, um sich wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Beim Lügen ertappt

Eine der profiliertesten Fakerinnen im World Wide Web ist die 18-jährige Limeybean, angeblich eine in London lebende Immigrantin, aber so genau weiß das niemand. Sie behauptete, an einer seltenen Form von Tuberkulose erkrankt zu sein, und "erbloggte" sich mit ihrem Leiden auf LiveJournal eine ansehnliche Gefolgschaft.

Als Limeybeans Tod schließlich auf MySpace bekannt gegeben wurde, packten einen britischen Medizinstudenten Zweifel. Er verglich ihre Krankheitsbeschreibungen mit dem Lehrbuch und kam zu dem Schluss, dass sie ihren Lesern etwas vorgemacht hatte.

Kurze Zeit später kehrte die Totgeglaubte aus dem Jenseits zurück und bloggte erneut, um dann wieder spurlos zu verschwinden. Bis heute weiß niemand, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt.

In Deutschland bisher unbekannt

In Deutschland sind laut Angaben von diversen Gesundheitswebseiten bislang noch keine Fälle von Münchhausen by Internet aufgetaucht - oder sind die Erkrankten einfach nur nicht aufgeflogen? Immerhin gibt es ein deutsches Onlineforum, dessen Betreiber von unglaubwürdigen Fällen berichten, allerdings wollen sie hier nicht genannt werden.

Wie ist es möglich, dass eine psychische Krankheit, die in den USA bereits in den 1990er Jahren ihr Unwesen trieb, in Deutschland nur vom Hörensagen bekannt ist? US-Wissenschaftlern zufolge werden manche virtuelle Gesundheitsforen scharf überwacht, und wer auffällt, wird sofort ausgeschlossen.

Aber: Ist das nicht ein Widerspruch an sich, wenn diese Internetseiten, die an Krankheiten Geld verdienen, Menschen ausschließen, die dringend Hilfe brauchen? Sollte man nicht vielmehr ein vertrauensvoller Ansprechpartner für Leidende sein, denen sonst niemand hilft?

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8 Kommentare

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  • D
    Darkside

    Dieser Artikel ist ein Schritt in die Richtung:

    Glaubt den Gesundheitsforen nichts, nur die Pharma hat recht! In Foren sitzen doch nur die Spinner!

     

    Also ich bin überzeugter Forenleser und falls dort wirklich mal ein geringfügiger Prozentsatz von Spinnern rumgeistern sollte, na und? Die Wirtschaft ist voll mit Spinnern!

  • W
    womue

    Wenn ich das so lese - ich glaube kein Wort davon.

    Die Leute in Gesundheitsforen bemitleiden sich nach meiner Erfahrung kaum, sie sprechen über Therapien und geben ihren Hoffnungen Ausdruck. Da kann man selbst als amtlich zertifizierter Psychosomatiker etwas Positives für sich mitnehmen, ohne sich irgendwie einzumischen. Das wäre mir viel zu peinlich. Im Übrigen muß man ja davon ausgehen, daß auch immer Ärzte mitlesen. Oh, mein Rheuma meldet sich schon wieder...

  • R
    Rainer

    Dieses Problem können nur echte Mediziner lösen - z.B. Dr. Guttenberg.

  • S
    Seberus

    Trolling is a art

  • W
    Witzig

    Spielt mal ne Runde Battlefield oder Call of Duty auf nem Ami Server. Spätestens wenn eines der Kids die noch nicht im Stimmbruch waren ausrastet und einem mit dem Tod bedroht und auf die 3 Jahre Kriegseinsatz im Irak hinweist wirds lustig.

     

    Es ist doch so keiner hat Bock seine Schwächen zuzugeben. Und da wo geht wird versucht so gut wie möglich dazustehen, das sorgt auch dafür das ich immer wieder im Urlaub beobachten kann wie 13-25 Jährige mit der Kamera rumrennen um "geile Fotos für Facebook (zu) machen, Alter".

     

    Es gibt einen Roman von Vernor Vinge von 1980 oder so in dem es ein Netzwerk vergleichbar mit dem jetzigen Internet gibt. Dort wird es "das Netz der tausend Lügen" genannt.

     

    Aber die Story von dem Typ ist der Hammer, ehrlich das es solche Leute gibt hätte ich nicht gedacht. Das es Menschen gibt die im Rollstuhl rumfahren obwohl sie keinen brauchen um Mitleid zu erhaschen wusste ich aber auch im Internet virtuell? Kill-er.

  • C
    Christoph

    Ich habe auch eine Sucht, ich muss Leute im Internet trollen.

  • S
    spiritofbee

    geteiltes Leid ist numal halbes Leid...spricht doch nichts dagegen. Diese Menschen haben bestimmt genug Leid zu tragen.

    Diesen Fakt zusätzlich noch als "Krankheit" zu konstruieren, entspricht doch wohl ganz dem aktuellen Trend zur Begründung aus Sicht der Pharmazie.

    Dieses "Münchhausen Syndrom" ist doch weltweit in der ausgeprägt chronischen Form insbesondere bei Politikern, Wirtschatfsbossen, Religionsführern und dergleichen anzutreffen. Noch nichtmal auf das Internet beschränkt, sondern in allen Medien weit verbreitet. Und dazu noch in einer hochinfektiösen Variante. Hier könnte sich doch die Entwicklung eines Medikamentes so richtig lohnen. Tell-true oder No-lie wäre doch zBsp. eine treffende Marke dafür.

  • E
    ErnstZ

    Ja, und?

    Das Lügen ist überhaupt Lifestyle geworden und nichts wirkt so gut wie Mitleid erzeugen, davon leben ganze Organisationen. Warum sollten Privatleute nicht auch ihren SPaß haben.