Müll für die Ewigkeit – die Neubausiedlung

Über Feierabende in der Neubausiedlung, Wildblumen und Feldsteine, Eisenbahnschwellen, Atombunker und Mülltrennung

Im Anfang war der Bebauungsplan. Er legte die Traufhöhe und die Abstandsflächen in der Siedlung fest, schrieb die Ausrichtung der Dachfirste und die Farbe der Ziegel vor. Er wies diejenigen Bäume und Hecken aus, die vom Bagger verschont bleiben sollten und künftig wie die Überreste einer längst vergangenen Zeit inmitten der Neubauten stehen würden. Außerdem erlaubte er den zukünftigen Bewohnern die ersten Spaziergänge durch die Spielstraßen und Fußwege, die auf den großformatigen Papierbögen in einer präzise ausgewiesenen Breite zwischen den Grundstücken entlangführten.

Alles hatte seine Ordnung, und man hätte sich nicht gewundert, wenn der Bebauungsplan auch Vorgaben in Bezug auf den Charakter der späteren Hauseigentümer enthalten hätte. Herr B. zumindest hatte mit seinem Grund und Boden, auf den er frühzeitig ein Anrecht erworben hatte, großes Glück gehabt. Er besaß ein Eckgrundstück. Zwar bestand es aufgrund seiner Lage praktisch nur aus Haus und Vorgarten. Doch die bunt gepflasterte Spielstraße an der einen und eine asphaltierte Dreißigerzone an der anderen Seite des Grundstücks erlaubten es dem leicht pedantisch veranlagten Finanzbeamten hervorragend, seiner selbst gewählten Rolle als Wächter über die Straßenverkehrsordnung nachzukommen. Wenn er mit dem Fahrrad von seiner Arbeit im Amt zurückkam, die schmale Aktentasche mit einem breiten Gummizug auf dem Gepäckträger befestigt, widmete er sich anschließend mit der gleichen Sorgfalt, mit der er tagsüber einen Stapel Einkommensteuererklärungen durchgesehen hatte, seiner Feierabendaufgabe. Er setzte sich in die Küche, aus deren Fenster er die beste Sicht hatte, und beobachtete die beiden Straßen, die an seinem Grundstück vorbeiführten.

Hatte er das Gefühl, dass einer der Autofahrer es auf den letzten paar hundert Metern von der Arbeit nach Hause zu eilig hatte, notierte Herr B. sich die Nummer und ließ sie am nächsten Tag von einem befreundeten Kollegen in der Kfz-Zulassungsstelle der Kreisverwaltung überprüfen. Penibel führte er Buch über die vermeintlichen Raser. Kam es zu Häufungen, suchte Herr B. die Nummer des auffällig Gewordenen aus dem Telefonbuch heraus und sprach mit verstellter Stimme und unter falschem Namen Drohungen aus.

Selbstverständlich war sein Haus streng nach den Vorgaben des Baurechts entstanden. Herr B. gehörte zu denjenigen Bewohnern der Neubausiedlung, die bereitwillig eingesehen hatten, dass die mit einem Eigenheim gewonnenen Freiheiten nur im Tausch gegen ein kompliziertes System von Regeln und Vorschriften zu haben waren. Er hatte darum aus Prinzip auch gar nicht erst versucht, mit einem seiner Nachbarn eine der üblichen Abmachungen zu treffen, um den Vorgaben des Bebauungsplans ein Schnippchen zu schlagen.

Nur eine einzige, von außen erkennbare Extravaganz hatte Herr B. sich erlaubt. Neben der Einfahrt zu seiner Garage stand ein kleiner, etwa ein Meter hoher Kasten mit einer Stahltür. Bei einem flüchtigen Blick hätte man ihn für einen der grauen Telefonkästen halten können, die hier und da an der Straße standen und zum Entsetzen einiger Bewohner des Neubaugebietes manchmal sogar in eines der Grundstücke hineindrängten.

Dieser Kasten jedoch war auf den ausdrücklichen Wunsch von Herrn B. entstanden, gehörte zu seinem Haus genauso wie die Garage und war dementsprechend auch passend zur Fassade mit hellen Klinkersteinen verkleidet worden: Das kleine Bauwerk war ein Mülltonnenschrank. Wenn Herr B. abends den Abfall aus dem Haus trug, konnte man beobachten, wie beim Öffnen der schweren Stahltür ein verborgener Mechanismus die schwarze Tonne aus dem Schrank herausschwenkte. Herr B. warf den Müllbeutel in die Tonne und verschloss die Stahltür wieder mit einem Schlüssel, den er an seinem Schlüsselbund trug. Mittwochmorgens, wenn die Müllabfuhr kam, öffnete er die Stahltür, bevor er ins Finanzamt ging. Seine Frau, die den ganzen Tag eine Schürze trug, schloss den Schrank später sorgfältig wieder ab. Die Stahltür wischte sie regelmäßig mit einem Lappen ab.

Ansonsten glich das Haus von Herrn B. den Häusern seiner Nachbarn. Hellgraue und beigefarbene Klinkersteine waren Ende der Siebzigerjahre, als die ersten Grundstücke der Neubausiedlung verkauft worden waren, sehr in Mode gewesen. Die Wände der Häuser, die innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden waren, leuchteten immer noch, und der sauber verputzte Mörtel in den Fugen wirkte noch genauso frisch wie am ersten Tag. In einem merkwürdigen Kontrast zu diesem Glanz standen allerdings die Bemühungen von Herrn B. und seinen Nachbarn, ihre Häuser mit allerlei altmodischem Zierrat zu schmücken.

So hatten sie zum Beispiel ihre Haustüren vorzugsweise mit altertümlich aussehenden Beschlägen aus Messing oder Gusseisen verziert – das gleiche Material, aus dem auch der Postkasten, das Zeitungsrohr und die Hausnummer waren. Sogar die Klingelknöpfe erweckten den Eindruck, als ob sie aus der Zeit der Industriellen Revolution oder einer noch früheren Epoche stammten.

Dieser rustikale Stil war sehr verbreitet. Es gab allerdings auch Ausnahmen. Einige Lehrer, ein Architekt und ein Zahnarzt bauten, nachdem sie in den Siebzigern ihre Urlaube vornehmlich in kleinen Ferienhütten in Dänemark oder Schweden verbracht hatten, ihre Häuser nach skandinavischen Vorbildern: mit dunkelroten Klinkersteinen, weit heruntergezogenen Dächern und einem sorgfältig verwilderten Garten. Im Keller ließen sie sich eine Sauna installieren, und ihre Möbel kauften sie bei einem Tagesausflug zu einer der weit entfernten Ikeaniederlassungen. Der Zahnarzt hatte sogar eine schwedische Frau geheiratet, die nun von seinen Nachbarn wie ein besonders eindrucksvoller Einrichtungsgegenstand bestaunt wurde.

An diesen Häusern fand man kein Messing und kein Gusseisen. Stattdessen war überall Holz zu sehen. Die Dachbalken ragten unter den Ziegeln hervor, der Giebel war ganz mit Holz verkleidet, und wer es sich leisten konnte, ließ statt Jalousien Fensterläden einbauen. Wind, Regen und Sonne hatten schon nach dem ersten Jahr Spuren in dem Material hinterlassen, was ihre Bewohner jedoch nicht weiter störte. Ganz im Gegenteil. Sie ließen sogar bereits fertig verwitterte Eisenbahnschwellen anliefern, mit denen sie ihre Terrassen auslegten und die mit Wildblumen bewachsenen Beete einfassten.

Alles musste neu sein und gleichzeitig möglichst alt aussehen: Genau wie ihre Nachbarn mit ihren historisierenden Türbeschlägen versuchten auch die Anhänger des skandinavischen Stils mit aller Macht, ihren aus Leichtbausteinen zusammengesetzten Neubauten etwas geschichtliche Schwere zu geben. Kein Wunder, dass an den Ecken vieler Grundstücke Feldsteine lagen – als müsste man den Rasen davor bewahren, wie im „Zauberer von Oz“ mit Haus, Garage und Einfahrt von einer Windböe davongetragen zu werden.

Tatsächlich fühlten sich Anfang der Achtzigerjahre viele Menschen zwischen Stahlbetondecken und hinter dreifach verglasten Fenstern keineswegs sicher. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg war groß. In Zeitungsartikeln konnte man sich beinahe täglich darüber informieren, wie der Abwurf einer Atombombe eine größere Stadt dem Erdboden gleichmachen würde – und auch über die Folgen für das „nichtkritische Zielgebiet“, wie die Provinz im Terminus der Zivilschutzstrategen hieß, wurde viel geschrieben. In den Dörfern und Kleinstädten, wo die Druckwelle der Bombe keinen unmittelbaren Schaden mehr anrichten konnte, würde man mit nuklearen Niederschlägen, Flächenbränden und anderen Katastrophen rechnen müssen. Keine schönen Aussichten.

Bereits 1977 hatte die Bundesregierung darum begonnen, den Bau von privaten Schutzräumen nach dem gleichen Prinzip zu fördern wie den Bau von Eigenheimen – mit einem staatlichen Zuschuss und einem Steuernachlass. Herr B. hatte sich mit dieser Materie eingehend befasst. Als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, stand für ihn die Entscheidung fest. Er befand sich gerade in den Planungen für sein Haus, und da er ein umsichtiger Mensch war, hatte er noch einen Bausparvertrag in der Hinterhand, den er jetzt aktivierte: Herr B. ließ sich in den Keller einen kleinen Bunker einbauen.

Die aus Fertigbetonteilen zusammengesetzte Kammer, die genau wie sein Mülltonnenschrank eine schwere Stahltür besaß, sollte nach Angaben des in Süddeutschland beheimateten Herstellers Schutz vor herabfallenden Trümmern, Brand und nuklearen Niederschlägen bieten. Herr B. konnte einer atomaren Auseinandersetzung damit beruhigt im Sinne der Parole entgegensehen, die die Nato für das ganze nichtkritische Zielgebiet in Europa und Amerika ausgegeben hatte – stay put, zu Deutsch in etwa: „Bleib zu Hause“.

Herr B. war stolz auf seinen Schutzraum, den er bequem über die Kellertreppe erreichen konnte. Als er kurz nach seinem Einzug den obligatorischen Besuch seiner Nachbarn erhielt, die ebenfalls gerade erst ihre neuen Häuser bezogen hatten und sich jetzt unter fachmännischen Diskussionen gegenseitig ihre Eigenheime vorführten, hätte er ihnen am liebsten auch den Bunker gezeigt. Nur der Gedanke, dass er und seine Frau im Ernstfall möglicherweise den knappen Sauerstoff und die vierzehn Tagesrationen an Trockenbrot und Milchpulver mit ihnen teilen müssten, hielt ihn in letzter Minute davon ab. Nachbarschaftshilfe hat ihre Grenzen.

Lange hielt Herrn B.s Stolz nicht an. Die Zeiten änderten sich. Am Ende der Achtzigerjahre schwand mit den Reformen in der Sowjetunion die Angst vor einem jähen Ende der Welt in einem Atomkrieg. Stattdessen war die Furcht vor den Gefahren gewachsen, die wie die Umweltverschmutzung langsam und unbemerkt daherkamen. Einige Bewohner des Neubaugebietes, deren Häuser in unmittelbarer Nähe einer der großen Überlandleitungen standen, schlossen sich sogar zu einer Initiative gegen Elektrosmog zusammen. Herr B. dagegen hatte vorerst seinen Frieden mit der Welt gemacht. Er nutzte seinen Bunker nun als Lagerplatz für ein paar Kisten Wein, die er und seine Frau regelmäßig im Herbst bei einem Kurzurlaub im Badischen einzukaufen pflegten; über dessen Existenz schwieg er sich jedoch auch weiterhin aus. Es war ihm peinlich, dass der trotz der Subventionen recht teure Betonklotz mit dem ABC-Schutzfilter sich nicht als die beste Investition herausgestellt hatte.

Der Bunker war nicht die einzige Baumaßnahme, bei der Herr B. sich verkalkuliert hatte. Auch mit seinem Mülltonnenschrank gab es Probleme. Als sich das Prinzip der Mülltrennung durchsetzte, hatte Herr B. diese mit großem Verwaltungsaufwand eingeführte Neuerung natürlich zunächst begrüßt. Der Gedanke, die Haushaltsabfälle nach recycelbaren Kunststoffen, Papiermüll, Biomüll und Restmüll zu trennen, schien ihm als ordnungsliebendem Menschen durchaus einsichtig. Der Nachteil dieses Verfahrens, das die Bewohner des Neubaugebietes dazu zwang, nach einem genauen Plan an verschiedenen Tagen verschiedenfarbige Tonnen zur Abholung an die Straße zu stellen, lag allerdings auf der Hand: Herr B. besaß jetzt mehrere Mülltonnen, in seinem extra für diesen Zweck gemauerten Schrank fand aber hinter der Stahltür nur eine Tonne Platz.

Nach einer kurzen Phase der Verzweiflung, die durch einen unglücklichen Zufall in die Zeit kurz nach seiner Pensionierung fiel, traf Herr B. die in seiner Situation einzig richtige Entscheidung. Während seine Nachbarn bereits darüber nachdachten, was sie mit ihren Häusern anfangen sollten, nachdem die Kinder ausgezogen waren, hatte Herr B. das große Glück, mit Hilfe eines Bauunternehmers einen Anbau planen zu dürfen. Der Mülltonnenschrank wurde verbreitert.