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Mühlen der Finanzgerichte mahlen langsam

■ Verfahrensstau an den Gerichten für Steuerfragen hat Rekordausmaße erreicht / Richter urteilen im Akkord

Von Jürgen Schulz

Die Mühlen der deutschen Finanzgerichtsbarkeit mahlen langsam. So langsam, daß die Kläger, die Steuerverwaltungsakte überprüfen lassen wollen, mitunter jahrelang auf die Urteile warten müssen. Dies geht aus dem jüngsten Geschäftsbericht für die Jahre 1985–1986 hervor, den die Arbeitsgemeinschaft der Finanzgerichte jetzt vorgelegt hat. Demzufolge schmorten am 31.12.1986 sage und schreibe 99.820 Fälle bei den zuständigen Behörden, wovon immerhin 4.784 Klagen bereits vor mehr als fünf Jahren eingereicht worden waren. Nahezu ein Viertel (23.521 Verfahren) sind seit über einem Jahr anhängig, fast jede siebte Auseinandersetzung harrt seit über zwei Jahren einer Entscheidung. „Mit rund 100.000 anhängigen Verfahren zum Jahresabschluß 1986 hat die Belastung der Gerichtsbarkeit einen neuen Höchststand erreicht“, schlägt die Ar beitsgemeinschaft Alarm. Denn: „Offensichtlich sind die Richter an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt.“ Als Leidtragende dieses enormen Verfahrensrückstaus können aber nicht nur die mit Arbeit eingedeckten 476 Richter an den Finanzgerichten (Stand: 31.12.86) oder die düpierten Kläger angesehen werden, sondern auch der Staat. Die zu lange Prozeßdauer, urteilte zu Beginn dieses Jahres das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, stelle einen Verstoß gegen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte dar. Es gab damit der Verfassungsbeschwerde eines genervten Steuerklägers statt und verdonnerte das Land Nordrhein–Westfalen, in dem der Beschwerdeführer jahrelang gegen juristische Windmühlen ankämpfen mußte, bevor sein Fall zur Behandlung kam, zur Kostenerstattung der Karlsruher Eingabe. Um nicht noch häufiger von höchst richterlicher Stelle des Verfassungsbruchs bezichtigt zu werden, erkannten nun auch die Justizminister in Bund und Ländern dringenden Handlungsbedarf. Es gelte, verkündeten sie unisono, das Verfassungsgebot der Gewährung angemessenen Rechtsschutzes zu achten. Über den richtigen Weg dorthin war man sich hingegen uneinig. Der Vorschlag, über die Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßordnung ans Ziel zu gelangen, landete bald wieder bei den Akten. Ohnehin war diese Möglichkeit von den Präsidenten der Finanzgerichte in der Vergangenheit bereits als untauglich abgestempelt worden. Ebenfalls verworfen wurde das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs– und Finanzgerichtsbarkeit, das, so die Präsidenten der bundesdeutschen Finanzgerichte, „letztlich nur punktuell wirken“ könne und die bestehenden Probleme nur „geringfügig“ milderte. Eine vom Bundesjustizminister eingesetzte Expertengruppe kam zu einer ähnlichen Schlußfolge rung: Die Prozesse vor den überforderten Finanzgerichten seien verfahrenstechnisch überhaupt nicht mehr zu beschleunigen. „Damit“, legen die Präsidenten der betroffenen Gerichte die Hand auf eine offene Wunde, „bleibt im Augenblick als einziges Mittel eine kräftige und auch kontinuierliche Personalaufstockung.“ Doch gerade diese Maßnahme, die die Haushalte zweifellos belasten würde, lag nicht im ureigensten Sinne von Bund und Ländern. Andererseits haben die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt, daß eine beträchtliche Stellenvermehrung an den Gerichten der wohl einzige Ausweg aus der chronischen Misere bedeuten würde. Zwar lag die Zahl der 1986 eingereichten Klagen unter dem Niveau des Vorjahres, doch müssen die riesigen Halden von Altlasten erst einmal abgebaut werden. Die Statistik verdeutlicht dies: War der einzelne Richter 1985 noch mit der Erledigung von durchschnittlich 213,5 Verfahren befaßt, so ist die Vergleichszahl ein Jahr danach kaum gesunken: Die Männer in den schwarzen Roben mußten sich immerhin noch durch 209,7 Vorgänge wühlen - trotz vermehrter Planstellen. In Niedersachsen und Nordrhein– Westfalen, wo man auf eine wirksame Erhöhung der Planstellenzahl weitgehend verzichtete, sind die Juristen schlimmer dran. In 1986 mußte jeder niedersächsische Richter im Durchschnitt 253,17 Fälle in Angriff nehmen, während die Kollegen von Rhein und Ruhr mit der Marschzahl 250,0 noch relativ glimpflich davonkamen. Der Trend weist dennoch nach oben. So konnten im Geschäftsjahr 1986 immerhin 3.000 Fälle mehr abgeschlossen werden als zwölf Monate zuvor. Diese Zunahme, da sind sich die Finanzpräsidenten ganz sicher, „beruht im wesentlichen auf der höheren Zahl der eingesetzten Richter.“ Und mit ihren ersehnten neuen Kollegen hoffen die gestreßten Rechtsprecher, wieder unter „normalen Arbeitsbedingungen“ urteilen zu können.

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