: „Motiv für Streit unter den Chilenen entfernen“
■ Chiles Präsident Aylwin legt Bericht über Menschenrechtsverletzungen unter der Pinochet-Diktatur vor/ 2.279 Fälle dokumentiert/ Mahnwachen und Demonstrationen in Santiago/ Verantwortung für Untersuchung an die Justiz weitergereicht
Santiago (taz/ips/afp/dpa) — In einer Fernsehansprache hat Chiles Präsident Patricio Aylwin am Montag abend einen über 1.700 Seiten umfassenden Bericht über die politische Repression während der 16jährigen Militärdiktatur vorgestellt. Der Bericht der amtlichen Untersuchungskommission „Wahrheit und Versöhnung“ unter Vorsitz des Juristen Paul Rettig dokumentiert 2.279 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Mehrheit der von Geheimdienst und Militär verschleppten Menschen seien hingerichtet worden oder an den Folgen von Folter und Mißhandlung gestorben. 957 Häftlinge seien spurlos verschwunden. „Wir müssen in der Lage sein, Lehren aus unserer Erfahrung zu ziehen, damit in Chile niemals wieder etwas Ähnliches passiert“, sagte der Präsident.
Während Aylwin sprach, vertrieb die Polizei Demonstranten aus der Innenstadt von Santiago, welche die Bestrafung der für die Tötungen Verantwortlichen forderten und zum Präsidentenpalast ziehen wollten. Im Arbeiterstadtteil General Velasquez hielten Tausende von Bewohnern Mahnwachen ab. Hier waren besonders viele Menschen während der Diktatur verschleppt worden.
Aylwin kündigte einen Gesetzentwurf an, der materielle Entschädigung für die Hinterbliebenen regeln soll, und sagte, nun sollten die Gerichte mit ihrer Arbeit beginnen. Doch dies dürfte schwierig sein. In der von Aylwin veröffentlichten Version des Rettig-Berichts sind die Namen der Opfer genannt, nicht jedoch die der Täter. Diese hält der Präsident unter Verschluß. Damit will er Spannungen mit der nach wie vor unter dem Oberkommando Pinochets stehenden Armee vermeiden. Unter Verweis darauf hat der Präsident bereits mehrere seiner Wahlversprechen gebrochen. So ist das Amnestiegesetz Pinochets, das Menschenrechtsverletzungen der Jahre 1973 bis 1978 — also die große Mehrzahl der in dem Rettig-Bericht aufgelisteten Fälle — von der Strafverfolgung ausnimmt, immer noch nicht annulliert. Aylwin erklärte auch jetzt, das Amnestiegesetz dürfe „kein Hindernis dafür sein, daß die Gerichte ihre Funktion erfüllen“.
Im Militär herrscht unterdessen Unruhe. Am Sonntag wurden ein Militärarzt, der beschuldigt wird, bei Folterungen assistiert zu haben, und seine Frau in Raconcagua von Unbekannten erschossen. Ein Regierungssprecher dementierte, daß die Streitkräfte aus Protest in Alarmbereitschaft stünden.
Nichtsdestotrotz rief Präsident Aylwin in seiner Fernsehrede „alle Chilenen“ auf, die lange geheimgehaltene Wahrheit zu akzeptieren. „Wenn sie von allen geteilt wird, wird diese Wahrheit, so schmerzlich und grausam sie sein mag, ein Motiv für Streit und Zwietracht unter den Chilenen entfernen.“
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