: Moskau vor dem Sprung
■ Litauens Moskautreue rufen zu Streiks auf / Verhandlungen in Moskau weiter ohne Ergebnis / Neue Besetzungen
Berlin (taz) - In Litauen zieht sich die Schnur um die Unabhängigkeitsbefürworter weiter zusammen. Während die Verhandlungsdelegation in Moskau weiterhin erfolglos versuchte, eine Bresche in die Front der Unionspolitiker zu schlagen, mußte die litauische Regierung sich auf Zugeständnisse einlassen. Die am Donnerstag verabschiedete Erklärung des litauischen Parlaments wiederholte zwar die bekannten Positionen, doch teilten litauische Regierungsmitglieder in London die Einzelheiten eines möglichen Kompromisses mit. So würden sowjetische „Interessen“ anerkannt werden, doch keine sowjetischen „Rechte“. Sowjetisches Militär könne daher auf litauischem Territorium stationiert bleiben. Auch der freie Verkehr nach Kalinigrad würde garantiert. „Eine Wirtschaftsblockade wäre schädlich für beide Seiten“, erklärte Regierungssprecher Cetuolis. Daher würden auch die existierenden Wirtschaftsbeziehungen weiterbestehen. Falls Moskau die litauische Unabhängigkeit akzeptiere, würde man auf weitere Schritte zur Unabhängigkeit verzichten - mit dieser Logik versuchte er das Gesicht der Unabhängigkeitsbefürworter zu wahren. Auch ein Referendum könne abgehalten werden.
In der Gewißheit, daß sich Landsbergis jetzt in der Defensive befindet, spielt Moskau jetzt mit offeneren Karten. Am Donnerstagabend stürmten 50 Sowjetsoldaten das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft in Vilnius. Am Freitagmorgen trat dann der litauische Industrieminister vors Fernsehen und gab bekannt, daß die moskautreue KP zu einem landesweiten Streik in den der Union unterstellten Betrieben aufgerufen hat. Er appellierte an die Arbeiter, diesem Aufruf nicht Folge zu leisten. Kurz darauf erklärten die Studenten der Universität Vilnius, sie würden die Arbeit in den Betrieben aufrechterhalten.
In Moskau haben mittlerweile auch die Radikalreformer von dem litauischen Herangehen an die Souveränitätsfrage die Nase voll. Der Reformer Sergej Stankiewitsch schlug in der 'Iswestija‘ vor, die einseitigen Beschlüsse des litauischen Parlaments auszusetzen, damit Verhandlungen beginnen könnten.
Gestern begann in Riga der Parteitag der lettischen KP. Der größere Teil der Delegierten strebt eine Unabhängigkeit der Partei von der KPdSU an.
D.J.
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