Morrissey-Tourauftakt in Offenbach: "God bless you all, especially me"
Es knisterte nach Vergangenheit: Morrissey hat seine Deutschlandtournee mit einem fulminanten Konzert in Offenbach eröffnet.
Die Koordinaten werden schon vor der Show abgesteckt: Auf einer Leinwand, hinter der das Instrumentarium der fünfköpfigen Band in Position gebracht wird, sind alte Fernsehausschnitte und Videos zu sehen - Aufnahmen eines englischen Arbeiterviertels in den Sechzigern etwa und die New York Dolls bei einem Auftritt in Manfred Sexauers "Musikladen". Es knistert sehr schön nach Vergangenheit.
Dann geht das Licht aus, die Bühne gewinnt an Tiefe, die Instrumente werden grell angeleuchtet, und vom Band ist Nina Simones Version von "Youll Never Walk Alone" zu hören. Das ist der Kosmos, in dem der junge Steven Patrick Morrissey einst seinen Sinn für Distinktion, Pathos und Croonertum entwickeln und schließlich zum meistangebeteten Star mit Tolle nach Elvis werden konnte. Kürzlich hat er in Manchester seinen 50. Geburtstag auf der Bühne gefeiert. Nun geht die Party im ausverkauften Offenbacher Capitol weiter, als Auftakt einer Deutschlandtour. Wo Morrissey auch hinkommt, seine Fans erwarten ihn schon: Mit enthusiastischen "Morrissey"-Gesängen begleiten sie sein Kommen, als würde ein Heiliger, der immerhin selbst Jesus Vergebung schenkt, in die Niederungen der Welt hinabsteigen und den Glauben an Schönheit, Einsamkeit und Traurigkeit lehren.
Morrissey ist ein Dandy, wie er im Wildeschen Buche steht; er will nicht so recht in die Zeit passen. Sie scheint ihm auch wenig anzuhaben. Seine inzwischen etwas gestutzte Frisur erinnert immer noch an die Fünfzigerjahre, sein Auftreten an noch frühere Epochen, als Stil einherging mit Charisma, Ausstrahlung mit Charakter. Wenn er betont, dass ihm die eigene Vergangenheit bedeutungslos sei, dann erlaubt ihm das umso mehr, ans Jetzt zu glauben, in dem Popgeschichte immer wieder präsent gemacht werden kann.
Seine Stimme ist, wie alles an ihm, Kunstwerk: Wo er sich und sein Leiden inszeniert, alles ins Exzentrische und Poetische erhebt, verleiht er auch seiner Stimme etwas pathetisch Weltenthobenes. Er steigert die Intensität seiner Texte ("How Can Anybody Possibly Know How I Feel") durch ein Höchstmaß an Künstlichkeit. Paradoxerweise erreicht er gerade dadurch eine Form von Authentizität. Nach dem Geheimnis seines Erfolgs befragt, gibt er stets zu Protokoll, er sei eben ganz natürlich, ganz er selbst.
Vielleicht ist das gar nicht mal so falsch: Auf der Bühne geriert er sich zwar wie eine Parodie der großen Entertainer, aber doch sind die übertriebenen Gesten und Kniefälle nicht nur narzisstische Übungen, sondern auch demütige Selbstversicherungen. Einer, dem die Liebe als etwas äußerst Fremdes erscheint, muss vielleicht das eigene Ich umso stärker aufplustern. Das hat freilich auch einiges mit Ironie und Witz zu tun: "You see someone that you physically despise", singt Morrissey in "Let Me Kiss You" und reißt sich dabei das Hemd vom Leib, um den nicht mehr ganz schlanken Körper darzubieten.
Von Verachtung kann gar nicht die Rede sein - die nächste Zeile des Songs geht im Kreischen der Zuschauer unter. Je selbstverliebter sich Morrissey auf der Bühne gibt, desto unbedingter die Zuneigung, die ihm entgegenschlägt. Morrissey wirkt stimmlich zu Beginn des Abends noch etwas unsicher, erlangt aber nach wenigen Stücken seine unglaubliche Präsenz. Er hetzt von Song zu Song, schwitzt Hemd um Hemd durch; bis auf einige Midtempo-Stücke hat das Konzert etwas Getriebenes. In Eilgeschwindigkeit wird die Vergangenheit (fünf Smiths-Klassiker sind zu hören, gleich zu Beginn "This Charming Man" und eine wuchtige Version von "How Soon Is Now") mit der jüngsten Gegenwart verknüpft (Songs der letzten drei Alben). Die Neunzigerjahre, in denen Morrissey zuweilen unschlüssig wirkende Platten veröffentlicht hat, werden nur gestreift.
Gitarrist Boz Boorer bestimmt den bombastischen, ruppigen Ton, der nie an Johnny Marrs elaboriertes Spiel bei den Smiths heranreicht; Schlagzeuger Matt Walker hat als voranpreschender Taktgeber des rockigen Sets eine Hauptrolle in der Band. Die Stimme Morrisseys wirkt dabei dem Sound immer ein bisschen enthoben, so ist der Saal ganz von seiner Aura angefüllt. Wenn der ewig junge Misanthrop im Rampenlicht steht, wird alles um ihn herum Staffage. Mit anderen Worten: Es ist ein ziemlich tolles, lautes, wildes Morrissey-Konzert. Und nach knapp 80 Minuten und einer Zugabe ("The First Of The Gang To Die") ist alles vorbei. "God bless you all", sagt Moz zum Abschied mit ironischem Unterton und fügt hinzu: "especially me". Ja, möge er sein talentiertes Erdenkind weiterhin mit Genialität segnen.
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