Morde an Politikern und Richtern: Welle der Gewalt in Inguschetien
Hochrangige Vertreter aus Politik und Religion fallen immer häufiger Gewaltverbrechen zum Opfer. Ein mögliches Motiv könnte sein, Kritiker der autoritären Staatsführung auszuschalten.
BERLIN taz | Die russische Nordkaukasusrepublik Inguschetien hat am Wochenende einen neuen Höhepunkt der Gewalt erlebt. Am Sonntag wurde der Leichnam des Anfang Juni entführten 85-jährigen Religionslehrers Abdurachman Kartojew entdeckt. Mehrere Schusswunden belegen, dass der Entführte ermordet worden war. Ebenfalls am Sonntag waren ein Begleitfahrzeug des Bürgermeisters von Nasran und wenig später ein Auto der Miliz beschossen worden.
Seit Anfang Juni waren bereits mehrere Personen in Inguschetien getötet worden. Am 13. Juni war in Nasran der frühere Vize-Ministerpräsident Baschir Auschew erschossen worden. Wenige Tage zuvor war die stellvertretende Vorsitzende der Obersten Gerichts Inguschetiens, Asa Gasgirejewa, in ihrem Dienstwagen erschossen worden.
Bereits ihr Amtsvorgänger war 2008 unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet worden. Asa Gasgirejewa hatte sich als Richterin immer wieder ihre Eigenständigkeit bewahrt. So hatte sie im März letzten Jahres zwei Oppositionelle freigesprochen und damit dem Druck des damaligen Präsidenten Inguschetiens, Murat Sjasikow, standgehalten, berichtet einer der Führer der Opposition, Makscharip Auschew, im Gespräch mit det Tageszeitung Kommersant. Die Richterin habe milde Urteile gegen Anhänger des früheren Präsidenten Sjasikow aufgehoben und korrupte Beamte hart bestraft, so Makscharip Auschew.
Ganz andere Motive dürften die Mörder von Baschir Auschew gehabt haben. Dieser hatte die vergangenen 15 Jahre lang hohe Ämter in den staatlichen Machtstrukturen inne. Der Getötete, so sein Namensvetter Makscharip Auschew, habe als Innenminister, als Sekretär des Sicherheitsrates und Chef des Antiterrorkomitees Insider-Wissen über die Todesschwadronen und die Verbrechen unter Präsident Sjasikow gehabt. Dabei habe er für viele Aktionen persönlich die Verantwortung getragen. Die Rache von Verwandten Verschwundener könne genauso ein Motiv sein, wie der Versuch gewisser Kreise, einen Mitwisser mundtot zu machen.
Bei manchen Morden in der Republik ist auch Blutrache im Spiel. Bei einem Treffen mit Familien, die sich in Blutfehden befinden, hatte Inguschetiens Präsident Jewkurow von 180 Familien gesprochen, die sich Blutrache geschworen hätten.
Mit dem Mord an Magomed Jewlojew, dem Betreiber der Internetseite "ingushetia.org", am 31.8.2008 hatte die Gewalt in der Republik einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. In der Folge hatte der seit 2002 regierende Präsident Murat Sjasikow seinen Hut nehmen müssen. Die Nachfolge hatte der von Moskau eingesetzte 45-jährige Oberst Junus-Bek Jewkurow angetreten. Jewkurow, der von Beginn an das Gespräch mit der Opposition und Angehörigen von Verschleppten gesucht hatte, hatte zunächst viele Vorschußlorbeeren erhalten.
Doch die Erwartungshaltung ist Enttäuschung gewichen. Die Gewalt hat sogar noch zugenommen. Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" berichtet von 59 Morden in Inguschetien in den ersten vier Monaten des Jahres 2009. Im gleichen Zeitraum 2008 hatte die Organisation neun Morde registriert.
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